Michael Scheffel
Im Dickicht von Kultur und Narration
Albrecht Koschorke versucht Kulturtheorie und Erzählforschung zu vereinen
Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012. 480 S. EUR 24,99. ISBN 978-3-10-038911-4
Im Zeichen eines viel beschworenen narrative turn hebt man seit etwa zwei Jahrzehnten in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften hervor, dass das Erzählen zu den elementaren kulturellen Handlungsformen des Menschen gehört. Und im Zuge einer allgemeinen Öffnung für kulturwissenschaftliche Fragen interessieren sich auch die Vertreter unterschiedlicher Nationalphilologien längst nicht mehr nur für das Erzählen in Romanen und literarischen Texten, d.h., sie reflektieren Formen und Funktionen des Erzählens als, so Hayden White zu Beginn der 1980er Jahre , „panglobal fact of culture“ (1981, 1). Das neue Buch des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Albrecht Koschorke greift diese Entwicklung und die mittlerweile bis in die Alltagssprache reichende Hochkonjunktur des Begriffs ‚Narrativ‘ auf und tritt seinerseits mit dem Anspruch an, nunmehr eine, wie der Klappentext verheißt, „Lücke zu schließen“ und die „Grundzüge“ einer „über ihren klassischen Geltungsbereich, die Literatur,“ hinausgehenden „Allgemeinen Erzähltheorie“ zu entwerfen. Aus Sicht des, so Gerald Prince im ersten Heft von Diegesis, „narratological tribe“ (Qiao / Prince 2012, 32) bietet Koschorkes Studie im Ergebnis, um es vorwegzunehmen, wenig neue Erkenntnisse zum Phänomen des Erzählens selbst, und sie entwirft auch keine systematisch durchdachte, die Ansätze aktueller Erzählforschung konsequent vorantreibende „Allgemeine Erzähltheorie“. Gleichwohl eröffnet sein Buch interessante Perspektiven. Seine Verdienste liegen in der originellen Zusammenschau einer Reihe von narratologischen Einsichten mit einem breiten Spektrum kulturtheoretischer Ansätze, in denen vom Erzählen bislang nicht oder nur am Rande die Rede war.
In Koschorkes Studie wird eine Vielfalt von Positionen der Forschung teils im Sinne einer Doxographie knapp rekonstruiert, teils aus neuen Blickwinkeln betrachtet und in eigene Zusammenhänge gesetzt. Sie beginnt mit einem langen Zitat aus Roland Barthes „Introduction à l’analyse structurale des récits“ („Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“, 1966), in dem dieser von der Allgegenwart der Erzählung („récit“) im Sinne einer Art kultureller Universalie spricht (ohne diese Wendung allerdings selbst zu gebrauchen). Ausgehend von diesem viel zitierten locus classicus für die These einer allgemeinen, d.h. transhistorischen, transkulturellen und auch transmedialen Bedeutung der Erzählung (ein Begriff, den Koschorke weitgehend synonym zu ‚Erzählen‘ gebraucht) entwickelt Koschorke ein Reihe theoretischer Grundlagen für die gegenwärtig so populäre Rede vom Menschen als homo narrans (Walter Fisher) oder auch storytelling animal (Alasdair MacIntyre). In Abgrenzung von Teilen der kulturwissenschaftlich orientierten Forschung arbeitet Koschorke dabei vor allem heraus, dass Erzählungen nicht uneingeschränkt zum Zwecke von „Angstbewältigung“ (S. 11), Sinnstiftung und Orientierung erfolgen, sondern im Einzelfall durchaus gegensätzliche Funktionen erfüllen: So können sie z.B. einerseits der „Kontingenzbewältigung“, andererseits aber auch dem „Abbau[] von Sinnbezügen“, d.h. der „Demontage von hegemonialen Sinnzwängen“, dienen und Kontingenz „geradezu heraufbeschw[ö]ren“ (ebd.). „Tatsächlich“, so ein erstes Zwischenfazit, seien „Erzählungen in einem gewissen Sinn Erzählspiele – regelgeleitet, mit unter Umständen großen Einsätzen, aber innerhalb des gegebenen Regelsystems in den meisten Spielzügen frei“ (S. 12). Neben der hier angesprochenen und dann noch weiter ausgeführten Verwandtschaft von homo narrans und homo ludens (Johan Huizinga) gehört zur Freiheit des Erzählens nach Koschorke, dass Erzählungen „hinsichtlich ihres Gegenstandes ontologisch indifferent“ sind und „Irreales als real und Reales als irreal erscheinen lassen“ (S. 17) können.
„Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel“ (S. 19) – so lautet die in zahlreichen Modifikationen reformulierte Grundthese von Koschorkes Buch. Seiner Ansicht nach genügt die bisherige Erzählforschung diesem Sachverhalt jedoch nicht, d.h., seines Erachtens wird die „Narratologie als Theorie poetischer Texte“ (ebd.) weder der offensichtlichen Allgegenwart des Erzählens noch der Tatsache gerecht, dass „der Begriff der Erzählung zu einer der transdisziplinär erfolgreichsten und expansionsfreudigsten literaturwissenschaftlichen Kategorien geworden ist“ (ebd.). Dem schiefen Bild einer sich als „Theorie poetischer Texte“ begreifenden Narratologie lässt Koschorke einen schlaglichtartigen, auch Standardwerke der neueren, inter- oder auch transdisziplinär angelegten Erzählforschung wie z.B. die Routledge Encyclopedia of Narrative Theory (2005) oder das Handbook of Narratology (2009) aussparenden Überblick über „[d]as Erzählen im Spiegel der wissenschaftlichen Disziplinen“ (S. 19-25) folgen. Der unmittelbare Bezug von Erzählen und sozialer Praxis, so resümiert Koschorke, „stiftet die Verbindung zwischen Erzähl- und Kulturtheorie“ (S. 25). Wie möchte Koschorke die Brücke von der Erzähl- zur Kulturtheorie nun in concreto schlagen? In einem ersten Schritt charakterisiert er das Erzählen als „Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation“ und versucht, die „Transformationsregeln“ zu ermitteln, „die diesen Prozess steuern“ (ebd.).
Im Anschluss u.a. an den zum „Erzähltheoretiker“ (S. 29) erklärten Phänomenologen und Husserl-Forscher David Carr bestimmt Koschorke das Erzählen zunächst als eine „hochgradig selektive Tätigkeit“, weil es aus einer „Masse von Daten“ „wenige Einzelzüge als signifikant“ (ebd.) heraushebt. Wie der Vorgang der narrativen Konstitution dabei im Einzelnen zu modellieren ist und was genau diese „Daten“ ausmacht, d.h., ob es sich bei der Vorlage von Erzählungen um Geschehen, Ereignisse, Handlungen und/oder Erfahrungen in der Lebenswirklichkeit handelt, diese von Narratologen aus unterschiedlichen Blickwinkeln vieldiskutierten Fragen blendet Koschorke an dieser Stelle allerdings weitgehend aus. Ein wichtiges Charakteristikum des Erzählens ist für ihn die „Schemabildung“ (S. 29-38), wobei er den – auch von ihm selbst – vielgebrauchten Begriff des „Narrativs“ in diesem Zusammenhang als einen Typ der „erzählerische[n] Generalisierung[]“ von einem „mittleren Härtegrad“ versteht und von der „unabzählbaren Vielfalt individueller Geschichten (im Sinn von stories)“ (S. 30) unterscheidet. In poststrukturalistischer Tradition steht hier also nicht das Verhältnis von Erzählung und Erzähltem im Blickpunkt, sondern das Verhältnis von Erzählung zu Erzählung, d.h. letztlich die Frage der Transformation von Erzählungen in Erzählungen im Fortgang des Erzählens. In Koschorkes Sinne können Erzählungen reproduziert oder variiert werden, wobei drei „Grundvorgänge[]“ in Frage kommen: „Verknappung, Angleichung, Vervollständigung“ (S. 32). Weil sich mit jeder Erzählung also einerseits die Möglichkeit der Schematisierung, andererseits aber auch der Variation von vorherigen Erzählungen verbinde, erlaube das Erzählen, grob gesprochen, sowohl die Erhaltung und Stabilisierung als auch den „Wandel“ und die „Entwicklung“ (S. 101) von sozialen Gemeinschaften und Kulturen.
„Seine volle Reichweite“, so schließt Koschorke den ersten, tatsächlich nur in einem groben Sinn ‚narratologisch‘ angelegten Teil seiner Studie, „entfaltet der narratologische Ansatz“ allerdings „erst, wenn er durch einen kultursemiotischen Theorierahmen ergänzt wird. Dabei wird es notwendig sein, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die es erlaubt, Kulturen als polyzentrische, vielstimmige, zeitoffene, unfertige, von Narrativen mit unterschiedlichen Laufzeiten und Geltungsreichweiten durchwobene Formationen von sozialer Energie zu analysieren“ (S. 109). Eben diesem „kultursemiotischen Theorierahmen“ sind die weiteren Ausführungen Koschorkes gewidmet.
Im Folgenden verstärkt sich eine Tendenz, die im Ansatz schon die Ausführungen im ersten Teil des Buches prägt: Nicht das Prinzip der systematischen Entwicklung und möglicherweise auch Überprüfung von Theoremen, sondern eher das des in einer Reihe von Episoden verlaufenden, mäandernden Assoziierens im Anschluss an eine Vielfalt von durchaus heterogenen theoretischen Ansätzen bestimmt den Gang der Untersuchung. Im Kapitel „Kulturelle Felder“ (S. 111-202) werden so z.B. Theorien des Raumes wie die Kultursemiotik Jurij Lotmans, aber auch Elemente aus Claude Lévi-Strauss’ Strukturaler Anthropologie zu einem „kultursemiotischen Raummodell“ verbunden, das „durch Anisotropie, ungleichmäßige Dichte sowie durch ein mannigfaches Gefälle zwischen Strukturkernen und schwach strukturierten Zonen gekennzeichnet“ (S. 148) sei. Dieses Modell eines „anisotropen Kommunikationsraumes“ wiederum vervollständige „ein Modell der diskontinuierlichen Verteilung semantischer Energien“ (ebd.), das u.a. Überlegungen zum „Sinn als Energieproblem“ (S. 148-152), aber auch zum „‚Sinn‘ in der Soziologie“ (S. 152-158) versammelt. „Sinn“ wird in diesem Rahmen als ein „unter bestimmten Bedingungen erzeugte[r] Effekt“ verstanden und „nicht als schlechthinnige Prämisse kultureller Aktivität“ (S. 155). Sowohl in der „motivierenden Verdichtung von Zeichenketten“ als auch „in der Abdunkelung von Bezügen […] übernimmt das Erzählen“, so Koschorke, „die Rolle eines verstärkenden Mechanismus“ (S. 190), d.h. konkreter und nun wiederum vergleichsweise schlicht formuliert: „Durch tägliches Erzählen und Wiedererzählen werden Assoziationshorizonte offen gehalten, andererseits Vorurteile verfestigt und Gräben vertieft“ (ebd.).
Nach Raum und ‚kulturellen Feldern‘ gelten weitere Überlegungen der „Modellierung von sozialer Zeit“ (S. 203-286), denn, so Koschorke, „[w]ie der Raum wird auch die Zeit in den Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts nicht mehr als einförmige und lineare Erstreckung gedacht“ (S. 203). Neben den Konsequenzen einer Abkehr von der „Vorstellung eines Zeitkontinuums“ (ebd.) werden hier u.a. im Anschluss an Aleida Assmann unterschiedliche Formen des Gedächtnisses und die besondere Bedeutung von Erzählungen als ein „privilegiertes Medium der kollektiven Gedächtnisbildung“ (S. 219) reflektiert. Weitere Ausführungen betreffen den „Machtkampf: Zukunft vs. Vergangenheit“ (S. 224), die Phänomene der „Zukunftsfiktionen“ (S. 229), der „Konfliktnarrative“ (S. 236) sowie die „Beharrungskraft von Narrativen“ (S. 252), die Koschorke in diesem Fall vergleichsweise ausführlich an zwei Beispielen der „narrativen Wissensordnung[]“ der Moderne, nämlich am „Narrativ der Säkularisierung“ (S. 258) und dem „Narrativ der Aufklärung“ (S. 270), illustriert.
Im Blick auf Ansätze der Institutionenökonomik u.a. von Douglas C. North und Joseph E. Stieglitz führt Koschorke weiterhin den interessanten Gedanken aus, dass sich „kulturprägende Narrative als Institutionen im Reich der Semantik“ (S. 293) auffassen lassen und dass eine grundlegende Gemeinsamkeit von Narrativen und Institutionen darin gesehen werden kann, dass beide eine „Stabilisierungsleistung im Modus unvollständigen Wissens erbringen“ (S. 300). „Erzählen“, schreibt Koschorke, „ist in diesem Licht zu bestimmen als ein kulturelles Verfahren der Summierung, Verallgemeinerung, Abbreviatur, der suggestiven Motivierung und Erzeugung von tentativer Kausalität unter Bedingungen unvollständigen Wissens“ (ebd.). Dabei, so ergänzt er an späterer Stelle, bestehe die Leistung von Erzählungen auch darin, „Abweichungen durch erzählende Ausdeutung zu ‚normalisieren‘“ und – gewissermaßen im Gegenzug – „das Faszinationspotential von irregulärem Verhalten lebendig und sozial verfügbar zu halten“ (S. 315).
In einem abschließenden, den ‚epistemischen Narrativen‘ gewidmeten Kapitel (S. 329-398) wendet sich Koschorke der titelgebenden Frage seines Buches, d.h. dem Verhältnis von „Wahrheit und Erfindung“, zu. Diese Frage – und mit ihr auch das Verhältnis von Erzählung und Referenz (wobei dafür im Einzelnen ja unterschiedliche Kandidaten wie z.B. ‚Geschehen‘, ‚Ereignis‘, ‚Erfahrung‘ oder auch ‚Kontext‘ oder ‚Welt‘ in Frage kämen) – wird allerdings eher skizzenhaft behandelt und nicht wirklich mit den vorherigen Kapiteln verknüpft. „Erzählen“ und „Erkennen“ stellen für Koschorke jedenfalls keinen notwendigen Gegensatz dar, d.h. „Erzählungen“ bilden keinen „Gegenpol zu wissenschaftlichem Wissen“, sondern vielmehr „ein wesentliches Element in der Organisation von Wissensordnungen“ (S. 329) – wobei Koschorke einerseits von einer grundsätzlichen „Unzuverlässigkeit des Erzählens“ im Sinne einer „willkürliche[n] Beziehung auf Realität und Wahrheit“ (S. 338) spricht, andererseits aber durchaus zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Erzählungen unterscheiden möchte (und zum Zwecke einer entsprechenden Differenzierung ein „epistemologisches Mehr-Komponenten-Spiel“ (S. 352) anregt, d.h. vorschlägt, ein „System von Regeln“ dafür aufzustellen, „wie der Objektbezug, der Selbstbezug und der Gesellschaftsbezug von Zeichensystemen zusammenspielen“ (S. 351)). Im Blick auf die soziale und erkenntnistheoretische Funktion von Erzählungen formuliert er in diesem Zusammenhang die Hypothese,
dass Gesellschaften ihr inneres Konfliktpotential dadurch zu bändigen suchen, dass sie den Abstand zwischen dem Realen und seiner jeweiligen sozialen Codierung beweglich halten. Dafür brauchen sie einen hinreichend elastischen Kommunikationsraum mit hinreichend informellen, variablen, ja sogar spielerischen Verfahren der Informationsverarbeitung. […] Je mehr soziale Energie ein Narrativ in sich aufnimmt und bindet, desto unabhängiger macht es sich im Regelfall von dem Kriterium überprüfbarer Referentialität. Es modelliert also das Wissen und das Nichtwissen einer Gesellschaft in gleicher Weise. (Ebd.)
„Aufs Ganze gesehen“ aber, so lauten die letzten Sätze des Buchs zum „Erzählen in kulturellen Zusammenhängen“ (S. 397), „bleiben Kulturen sich selbst opak. Sie träumen und dichten sich eher, als dass sie sich denken. Auf dieser Stufe wird unentscheidbar, was Wahrheit und was Erfindung ist“ (S. 398).
De facto bietet Koschorkes Buch einen auch im buchstäblichen Sinne vielseitigen, wenn auch nicht immer stringent perspektivierten Überblick über die heterogenen Anstrengungen zeitgenössischer Theorien, die Grundlagen und Voraussetzungen von Kultur(en) zu konzipieren. Für einen narratologisch informierten Leser stellt es in mancher Hinsicht aber auch eine Enttäuschung dar. Denn das dem Erzählen im Allgemeinen zugewiesene Prinzip einer „hochgradig selektive[n] Tätigkeit“ (S. 29) bestimmt Koschorkes eigene Erzählung von den Leistungen und Interessen bisheriger narratologischer Forschung in einem doch irritierenden Maß. Dass Koschorke die Erkenntnisse dieser Forschung weitgehend ausblendet und nur kursorisch in seine Überlegungen integriert, verursacht überflüssige Unschärfen in der erzähltheoretischen Modellierung und vermindert die Anschlussfähigkeit der angestrebten Neuakzentuierung von Kulturtheorie im Zeichen des Begriffs der Narration. Und auch wenn Koschorke dem gegenwärtig in den Kulturwissenschaften verbreiteten, allzu schlichten Bild einer als geradezu notwendig gedachten Einheit von Erzählung, Sinnbildung und Kohärenz ein erheblich komplexeres Konzept von ‚Erzählung‘ entgegenhält: Die Einsicht, dass Erzählungen grundsätzlich, d.h. in ihrer Gestalt, in ihrem Wirklichkeitsbezug und in ihren pragmatischen Funktionen, in ganz verschiedener Hinsicht offen sein können und dass sie „beides, dem sozialen Wandel unterworfen und Medien seiner Gestaltung“ (S. 212) sind, begründet ihrerseits noch keine „Allgemeine Erzähltheorie“. Sieht man von anderen Schwierigkeiten ab, so müsste eine solche ‚Theorie‘ denn doch entschieden mehr Differenzierungsmöglichkeiten im weiten Feld ‚des‘ Erzählens eröffnen und auch grundlegende, von Koschorke teils gar nicht oder nur am Rande behandelte (und jedenfalls nicht in ein zusammenhängendes Modell integrierte) Aspekte wie etwa das Problem der narrativen Konstitution, die Funktion unterschiedlicher Medien, Formen und Orte des Erzählens oder auch das Verhältnis von faktualem und fiktionalem Erzählen präziser reflektieren. Aber vielleicht entspricht der Entwurf einer solchen, auf konzeptionelle Breite und taxonomische Differenzierungskraft hin ausgearbeiteten „Erzähltheorie“ auch gar nicht der eigentlichen Absicht dieser letztlich – entgegen dem Versprechen ihres Titels – wie eine Tour d’horizon in neuem Gelände und damit wie die „Grundzüge“ zu einem work in progress angelegten Studie.
Kurz gesagt: Koschorke liefert manche Anregungen zum Weiterdenken, eine überzeugende Vereinigung von Kulturtheorie und Narratologie gelingt in der vorliegenden Form jedoch (noch) nicht. Tragfähigere Ansätze zu einer solchen Verbindung haben schärfer fokussierte und damit zwangsläufig auch thematisch enger gefasste Studien schon geleistet – etwa zur anthropologischen und kulturellen Bedeutung der (narrativen) Fiktion (vgl. Schaeffer, 1999) oder auch zum Verhältnis von Zeit und Erzählung (vgl. Ricoeur, 1983-85); für das Verhältnis von ‚Kultur‘ und ‚Erzählung‘ in toto bleibt eine umfassende theoretischen Modellierung dagegen ein – möglicherweise so auch gar nicht zu realisierendes, weil allzu ambitioniertes – Projekt.
Qiao, Guoqiang / Prince, Gerald (2012): „Narratology as a Discipline. An Interview with Gerald Prince”. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 1 (H. 1), S. 32-42. URN: urn:nbn:de:hbz:468-20121031-150201-7.
Ricoeur, Paul (1983-85): Temps et récit. 3 Bde. Paris.
Schaeffer, Jean Marie (1999): Pourquoi la fiction? Paris.
White, Hayden (1981): „The Value of Narrativity in the Representation of Reality“. In: William John Thomas Mitchell (Hg.), On Narrative. Chicago, S. 1-23.
Prof. Dr. Michael
Scheffel
Bergische Universität Wuppertal
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