Christoph Bartsch

Möglichkeiten einer Narratologie des Unmöglichen

Erzähltheoretische Annäherungen an das ‚Unnatürliche‘ in Literatur, Film und anderen Medien

Jan Alber / Rüdiger Heinze (Hg.): Unnatural Narratives – Unnatural Narratology. Berlin / Boston: De Gruyter 2011 (= linguae & litterae Bd. 9). 273 S. EUR 99,95. ISBN 311022903X

Seit einiger Zeit ist bei vielen Narratologen ein zunehmendes Ungenügen an der gegenwärtigen Ausrichtung erzähltheoretischer Strömungen beobachtbar. Sie beklagen die Annahmen neuerer Trends der Erzähltheorie – die sie u.a. durch die kognitivistischen Ansätze Monika Fluderniks (1996) und David Hermans (2009) vertreten sehen – , dass sich universale Basiselemente des Erzählens benennen lassen, die allen seinen Erscheinungsformen zugrunde liegen und im ‚natürlichen‘ (natural) Erzählen, d.h. im mündlichen Alltagserzählen, prototypisch repräsentiert sind. Doch die Rückkopplung von Narrativität an kognitive und konversationsbasierte Parameter, die Präferenz realweltlicher Darstellungsinhalte und das Bestreben, einen Narrativitätsbegriff zu etablieren, der ‚alle‘ Formen des Erzählens abdeckt, drohe die distinktive Eigenart vieler vor allem literarisch-fiktionaler Erzählungen zu nivellieren. Stattdessen führen – so der Vorbehalt der Kritiker – Versuche, eine allumfassende Erzähltheorie (universal narratology) zu etablieren, die seit Aristoteles bestehende mimetische Ausrichtung (mimetic bias) der theoretischen Auseinandersetzung mit Erzählliteratur fort, da realistische Paradigmen wie etwa Wahrscheinlichkeit und Kohärenz als analytische Maßstäbe an fiktionale Texte herangetragen werden. Vertreter der sich in den vergangenen Jahren konstituierenden ‚unnatürlichen Narratologie‘ (unnatural narratology) begegnen diesen – wie sie sagen – reduktionistischen Tendenzen, indem sie die von ‚natürlichen‘ Erzählungen signifikant abweichenden Spezifika anderer – ‚unnatürlicher‘ – Erzählformen induktiv auszuloten und systematisch zu beschreiben versuchen.1

U.a. aus den Vorträgen einer 2008 von Jan Alber und Rüdiger Heinze an der Universität Freiburg veranstalteten Tagung „Unnatürliches Erzählen, Unnatural Narratives“ ist ein Sammelband hervorgegangen, der erstmals systematisch das Spektrum dieser jungen und vitalen „subdomain of postclassical narratology“ (S. 6) in seiner ganzen Breite präsentiert. Der analytische Fokus der in vier thematische Rubriken aufgeteilten Aufsätze ist nicht nur auf Romane, Erzählungen und Dramen gerichtet, sondern darüber hinaus auch auf mündliches und autobiografisches Erzählen, auf Filme, Comics und graphic novels. Untersucht werden diese Erzählformen im Hinblick auf Paradigmen wie ‚Figur‘, ,(Erzähl)-Stimmen‘, ‚Zeit‘, ‚Ereignis‘ u.a. Da der Band die erste größere Publikation dieses narratologischen Forschungszweigs ist, kann er als gegenwärtige Bestandsaufnahme der bisher geleisteten Arbeiten auf diesem Gebiet angesehen werden.

Der Gegenstand einer ‚unnatürlichen Narratologie‘

Die ‚unnatürliche Narratologie‘ sei nicht etwa „a bit like ornithology with a special interest in emus“ (S. 81), weil sie ihr Augenmerk auf ‚nicht-prototypische‘ Vertreter der Kategorie ‚Narration‘ richte; vielmehr machen sich die Beiträger dafür stark, ‚unnatürliche‘ Erzählungen als eine dem ‚Natürlichen‘ gleichberechtigte und somit nicht als eine normabweichende Erscheinungsform des Erzählens zu verstehen. Die ‚unnatürliche Narratologie‘ selbst definiere sich über ihren Gegenstand, das ‚unnatürliche‘ Erzählen; sie entwickele kein eigenständiges methodisches Rüstzeug, sondern greife auf strukturalistische, kognitive und hermeneutische Ansätze zurück (vgl. auch Richardson 2008). Die Bestimmung dieses ‚unnatürlichen‘ Gegenstandes erfolgt meist in komplementärer Abhängigkeit davon, was unter ‚natürlichem‘ Erzählen verstanden wird. Alber und Heinze weisen explizit in ihrer Einleitung auf die Heterogenität der unterschiedlichen Blickwinkel und Definitionen des ‚Unnatürlichen‘ hin, die sich auch im Verhältnis der Beiträge zueinander niederschlagen.

In der ersten Rubrik des Bandes diskutieren Brian Richardson und Jan Alber das ‚Unnatürliche‘ in Erzähltexten aus synchroner und diachroner Perspektive. Jedoch gehen beide Autoren von einem unterschiedlichen Verständnis des ‚Unnatürlichen‘ aus. Richardson bezieht sich vor allem auf „anti-mimetische“ Erzählungen; damit bezeichnet er solche Texte, die im Gegensatz zu „mimetischen“ (z.B. Leo Tolstois Anna Karenina) und „nicht-mimetischen“ Texten (z.B. J.R.R. Tolkiens Lord of the Rings) ihre eigene Fiktivität und Artifizialität markieren, indem sie mit überkommenen Erzählmustern und -techniken brechen, „in particular the conventions of nonfictional narratives, oral or written, and fictional modes like realism that model themselves on nonfictional narratives“ (S. 34). Gattungen wie Science Fiction, Allegorien, Märchen und Werke der Fantasyliteratur gehören für ihn aufgrund ihrer etablierten Konventionalität und ihres geringen Potenzials, Verfremdungseffekte zu erzielen, in der Regel nicht der Domäne des ‚Unnatürlichen‘ an. Entsprechend gebraucht Richardson „natural“ und „conventional“ synonym (S. 33).

Anders als Richardson arbeitet Alber mit weniger restriktiven Kriterien, um Texte dem ‚Unnatürlichen‘ zuordnen zu können. Texte sind ihm zufolge dann ‚unnatürlich‘, wenn sie physikalisch und logisch unmögliche Szenarien bzw. Ereignisse erzählen.2 Im Gegensatz zu Richardsons engerem Verständnis des ‚Unnatürlichen‘ ist es dabei für Alber nicht von Bedeutung, ob Texte vom Leser als bereits konventionalisiert (bzw. ihre realitätsinkommensurablen Ereignisse als ‚naturalisiert‘) wahrgenommen werden oder nicht; auschlaggebend für ihre Zuordnung zum ‚Unnatürlichen‘ sind die ontologischen Abweichungen der von ihnen evozierten Welten von realweltlichen Parametern, wobei historisch und kulturell variante Wirklichkeitsauffassungen von Alber unberücksichtigt bleiben. Konventionalisierungsprozessen des ‚Unnatürlichen‘ misst jedoch auch er eine zentrale Bedeutung bei: Diese korrelierten nämlich mit der progressiven Konstituierung neuer Gattungen. Diese These entfaltet Alber anhand eines Längsschnitts der Funktionalität des ‚Unnatürlichen‘ von der altenglichen Versliteratur bis in die Gegenwart.3 Als Beispiele nennt er u.a. ‚unnatürliche‘ (weil realweltlich ‚unmögliche‘) Erzählinhalte wie sprechende Tiere oder Zeitreisen, die keine Verfremdungseffekte mehr hervorrufen, wenn sie von einer Leserschaft in ein sich im Verlauf der Literaturgeschichte etablierendes, gattungskonventionelles Wahrnehmungsraster (perceptual frame) integriert werden können (Fabel, Märchen, Science Fiction). Daher müsse sich das ‚Unnatürliche‘ immer neue Erzählinhalte suchen, für die noch keine gattungsspezifischen Wahrnehmungsraster zur Verfügung stehen, um neue Verfremdungseffekte hervorrufen zu können.

‚Unnatürliches‘ erzählen und ‚unnatürliches‘ Erzählen

Der zweite Themenabschnitt setzt sich mit ‚unnatürlichen‘ Elementen auf der diskursiven Ebene narrativer Vermittlung auseinander. Die Überlegungen von Henrik Skov Nielsen, Stefan Iversen und Caroline Pirlet nehmen allesamt Bezug auf Fluderniks Basispostulate einer ‚natürlichen Narratologie‘. Einleuchtend ist der Vorschlag Nielsens, eine deutliche Unterscheidung von ‚Unnatürlichkeit‘ und ‚Unkonventionalität‘ vorzunehmen: Da Fludernik das Alltagserzählen als die ‚natürliche‘, weil prototypische Form des Erzählens begreift, so müsste literarisch-fiktionales Erzählen überhaupt als ‚unnatürlich‘ verstanden werden. Damit sei jedoch offenkundig nichts gewonnen, denn diese Einsicht erlaube kaum subkategoriale Binnendifferenzierungen, um ‚unnatürliches‘ Erzählen in einem spezifischen von ‚unnatürlichem‘ Erzählen in einem allgemeinen Sinne abgrenzen zu können. Daher schlägt Nielsen vor, die Opposition von ‚natürlich‘/‚unnatürlich‘ mit den binären Kategorien ‚konventionell‘/‚unkonventionell‘ zu kombinieren und eine Taxonomie zu etablieren, die ein dynamisches, graduelle Varianzen erlaubendes Ordnungssystem unterschiedlicher Erzähltypen bereitstelle. So könnten mündlich kommunizierte Alltagserzählungen oder Autobiografien je nach ihrer diskursiven Beschaffenheit als ‚natürlich-konventionell‘ bzw. ‚natürlich-unkonventionell‘ kategorisiert werden, wohingegen sich die meisten literarisch-fiktionalen Erzählungen unter die Kategorien ‚unnatürlich-konventionell‘ (z.B. allwissendes Erzählen im Realismus) oder ‚unnatürlich-unkonventionell‘ (z.B. experimentell angelegte Erzählungen der Postmoderne) subsummieren ließen. Zunächst innovative ‚unnatürliche‘ Erzähltechniken wie etwa die Form der psychonarration – also ein Erzählerbericht über das Bewusstsein einer Figur (vgl. Cohn 1983 [1978]: S. 14) – können zwar im Laufe der Zeit zunehmend ‚konventionalisiert‘ werden, sie werden jedoch – so Nielsen – nicht ‚naturalisiert‘, da sie somit nicht zu Elementen ‚natürlicher‘ Kommunikation werden.

Iversen widmet sich autobiografischen Erzählungen von Holocaust-Überlebenden und distanziert sich dabei kritisch und auf ganz andere Weise als Nielsen von Fluderniks Konzept des ‚natürlichen‘ Erzählens. Fluderniks Reformulierung von Narrativität als vermittelte Erfahrungshaftigkeit (experientiality) werde den Erlebnisberichten jener Zeitzeugen kaum gerecht: Hier erscheine die Integrität eines homogenen Bewusstseins, das subjektive Erfahrungen filtert und kommuniziert, aufgebrochen. Die unfassbaren, sich jeglicher Kohärenz und Bedeutungshaftigkeit entziehenden Erinnerungen an die Vernichtungslager würden gewissermaßen einem ‚anderen‘ Selbst zugeschrieben. Es kommt offenbar zu einer Abspaltung des Ichs der Erinnerung (erlebendes Ich) von dem Ich der narrativen Vermittlung (erzählendes Ich). Aufgrund dieser intrapersonalen Trennung („split in identity“, S. 96) seien die tiefsitzenden traumatischen Erfahrungen der erzählten Geschichte (story) nicht ‚natürlich‘ in die gegenwärtige Kommunikationssituation (discourse) überführbar. Die Versuche der Rezipienten wiederum, solche Erinnerungsbruchstücke zu narrativisieren, ihnen also eine inhaltliche Kohärenz und damit einen Sinn zu verleihen, um sie zu ‚verstehen‘, würden zugleich eine ‚Verfälschung‘ der Erfahrungen der Überlebenden mit sich bringen. In diesen – mündlich vorgetragenen – Erzählungen fände demnach keine gelingende Transponierung von Erfahrungshaftigkeit statt, weshalb Fluderniks ‚natürliches‘ Narrativitätskonzept – so Iversen – diesen „unnatural narrative situations“ (S. 101) nicht vollends gerecht werde.

Der dritte Themenabschnitt verhandelt ‚unnatürliche‘ Zeit(en) und Kausalität. Während Maria Grishakova ihre Typologie fünf ‚unnatürlicher‘ Formen von Kausalität anhand eines Korpus entwickelt, der sich von Nikolai Gogol über Vladimir Nabokov bis zu Don DeLillo erstreckt, konzentrieren sich Martin Hermann und Per Krogh Hansen jeweils auf Filme des postmodernen Kinos (u.a. Groundhog Day [1993], Irréversible [2002]), die sich durch eine ‚unnatürliche‘ Gerichtetheit von Zeit auszeichnen (sei es auf inhaltlicher oder auf diskursiver Ebene).

Die vierte und den Band abschließende Rubrik ist ‚unnatürlichen‘ Ereignissen gewidmet bzw. der jeweiligen Ontologie der erzählten Welten, in denen solche Ereignisse situiert sind. Entsprechend lehnen sich Jeff Thoss, Johannes Fehrle und Andrea Moll explizit an Albers Definition des ‚Unnatürlichen‘ an. Sie decken in diesem Zuge aber auch konzeptionelle Unschärfen auf und entwickeln Vorschläge zu einer Reformulierung: Thoss untersucht metaleptische Erzählmodi (figurales Metabewusstsein und Transgressionen über innerdiegetische Ebenen hinweg) im Superhelden-Comic. Aufgrund der übermenschlichen Kräfte der Hauptfiguren und der damit einhergehenden Suspendierung realweltlicher Parameter seien die in Superhelden-Comics erzählten Ereignisse im Sinne Albers zwar ‚unnatürlich‘, allerdings zugleich konventionalisiert, weil sie als solche genrekonstitutiv seien. Konventionsbrechend würden solche Comics erst dann werden, wenn sie illusionsstörende Verfahren wie etwa Metalepsen inszenieren (beispielsweise werden sich die Figuren in Grant Morrison’s Animal Man [1988-1990] des sie gefangen haltenden Bildes [panel] bewusst und versuchen durch den Bildrahmen aus dieser Beengung auszubrechen).

Fehrle setzt sich allgemein mit den Formen und der Evokation des ‚Unnatürlichen‘ im Comic auseinander und entwickelt in diesem Zuge beachtenswerte Thesen: Da das Medium Comic seit Beginn seiner Konstituierung experimentell angelegt sei und ‚unnatürliche‘ – physikalisch unmögliche – Ereignisse vermittele, seien es mitunter gerade ‚realistische‘, also ‚natürliche‘ Elemente innerhalb der dargestellten Welt, die einen Gattungsbruch und somit einen Effekt der Verfremdung (estrangement in Analogie zu Viktor Šklovskijs Begriff ostranenie) provozieren (etwa wenn der Superheld nicht als typisierter ‚ewig-strahlender Retter‘, sondern als alternder, mit ambivalenten Persönlichkeitsdispositionen ausgestatteter Mensch inszeniert wird). Entsprechend plädiert Fehrle für ein sensibleres Bewusstsein für die Gattungs- und Medienspezifizität des ‚Unnatürlichen‘: Das ‚Unnatürliche‘ sollte nicht (nur) aus der referentiellen Diskrepanz zwischen der Textwelt und der wirklichen Welt des Lesers heraus ermittelt werden, sondern aus der Nonkonformität der Textwelt im Hinblick auf die prototypische, konventionelle Welt der jeweiligen Gattung (bzw. der gattungsspezifischen ‚Enzyklopädie‘ des Lesers), der ein Text zuzuordnen ist.

Den Band abschließend stellt Moll Resultate ihrer Untersuchung von mündlichen Erzählungen australischer Ureinwohner vor. Die Auswertung ihres Interviewmaterials veranlasst Moll zu der Feststellung, dass zwar viele spontan erzählte Geschichten der Aborigines von Begebenheiten erzählen, die von der Wirklichkeitsauffassung westlicher Kulturen signifikant abweichen, ihnen jedoch nicht das Etikett ‚unnatürlich‘ verliehen werden sollte. Die uns fremd anmutende Amalgamierung persönlicher Erfahrungen mit kulturbiografischen und mythischen (sprich ‚unnatürlichen‘) Elementen diene in diesen Fällen der sozioindividuellen Identitätsstiftung und der sinngebenden Ausdeutung von Welt. Die von ihren Erzählern als faktual authentifizierten Geschichten, die wiederholt durch ein anthropomorphes und spirituelles Verständnis der Natur gekennzeichnet sind, verweisen – so Moll – auf eine Vorstellung von Realität, die nicht durch eine Dichotomie zwischen empirisch-natürlichen und un- bzw. übernatürlichen Phänomenen bestimmt ist. ‚Unnatürlich‘ seien die erzählten Inhalte somit nur für den nicht zur Diskursgemeinschaft gehörenden Fremden, oder anders gewendet, die erzählten Inhalte seien dem Rezipienten einer westlichen, dem Rationalismus verpflichteten Kulturgemeinschaft fremd und er empfände sie daher als ‚unnatürlich‘. Sie sind jedoch nicht ‚unnatürlich‘ zu nennen im Sinne von verfremdend (experimentell oder nonkonformistisch), da ihrer Produktion weder eine intendierte Artifizialität noch ein Konventionsbruch innerhalb ihrer eigenen kulturspezifischen Erzähltradition zugeschrieben werden könne. Somit plädiert Moll dafür, die Differenzen zwischen dem jeweiligen kulturellen Kontext der Produktion und dem der Rezeption zu berücksichtigen, wenn es darum geht, Erzählungen als ‚natürlich‘ oder ‚unnatürlich‘ zu kategorisieren.

Unnatural Narratology: A Work in Progress

Der Sammelband Unnatural Narratives – Unnatural Narratology beeindruckt durch die Vielfältigkeit des untersuchten Materials, die nachdrücklich vor Augen führt, dass in allen Erscheinungsformen des Erzählens – im mündlichen wie schriftlichen, im faktualen wie fiktionalen Erzählen, zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Medien – anti-mimetische, unkonventionelle, verfremdende, d.h. nicht-natürliche Elemente ihren Platz haben (können). Darüber hinaus überzeugen die gewählten analytischen Zugriffe und der argumentative Aufbau der einzelnen Beiträge. Somit bietet dieser Band einen hervorragenden Überblick über den aktuellen Stand einer recht neuen, aber zunehmend Profil gewinnenden Forschungsrichtung. Der Band dokumentiert einen work in progress, einen Prozess der Sichtung, Selektion und sukzessiven Annäherung an narrative Phänomene, die trotz ihrer wesenhaften Heterogenität unter dem einen Begriff des ‚Unnatürlichen‘ versammelt werden, der zugleich als kleinster gemeinsamer Nenner des disparaten Materials dient, mit dem sich die einzelnen Beiträge auseinandersetzen. In diesem Prozess möchte der Sammelband eine vorläufige Zwischenbilanz ziehen, und diesem Anliegen wird er vollends gerecht.

Während sich die Beiträge kritisch im Hinblick auf bestehende Narrativitätskonzepte (Fludernik, Herman, Phelan) positionieren, berücksichtigen sie die vorhandene Forschung zu den Textsorten, die sie dem ‚Unnatürlichen‘ zurechnen, nicht immer ausreichend. Das heißt es fehlt weitgehend eine reflektierte Berücksichtigung bestehender Gattungstheorien (Literatur der Phantastik, des magischen Realismus, des Absurden, des nouveau roman etc.) und bestehender Arbeiten zu narrativen Verfremdungsverfahren (zu denken wäre z.B. an die umfangreichen Studien Werner Wolfs). Ein narratologisches Forschungsprogramm wie das einer unnatural narratology, das sich vorwiegend über ein bestimmtes, im Fokus der Analyse stehendes Textkorpus definiert, müsste sich jedoch noch genauer innerhalb der Forschung, die sich bereits mit diesen Texttypen auseinandergesetzt hat, verorten, um deutlich zu machen, inwiefern die Etablierung von Kategorien des ‚Unnatürlichen‘ einen heuristischen Mehrwert liefert. Dies setzt jedoch eine Präzisierung der Erkenntnisinteressen voraus, die einer ‚unnatürlichen Narratologie‘ zugrunde liegen: Ist sie ein im engeren Sinne narrativitätstheoretischer Ansatz oder steht die Erzähltextanalyse im Fokus ihrer Forschungen bzw. wie verhalten sich hier diese Untersuchungsanliegen zueinander? Im Hinblick auf solche Fragen könnte das Profil der ‚unnatürlichen Narratologie‘ nach stärker konturiert werden.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Sammelband das zweifelsohne vielversprechende Potenzial der unnatural narratology überzeugend dokumentiert und nachhaltig Neugier darauf weckt, welche ‚unnatürlichen Phänomene‘ in Erzählungen künftig noch entdeckt werden.

Literaturverzeichnis

Alber, Jan (2009): „Impossible Storyworlds – and What to Do with Them“. In: Storyworlds. A Journal of Narrative Studies 1, S. 79-96.

Cohn, Dorrit (1978): Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton, NJ 1983.

Fludernik, Monika (1996): Towards a ‚Natural‘ Narratology. London / New York.

Herman, David (2009): Basic Elements of Narrative. Malden, MA.

Richardson, Brian (2008): „Theses on Unnatural Narratology“. URL: http://nordisk.au.dk/fileadmin/www.nordisk.au.dk/forskning/centre__grupper_og_projekter/narrative_research_lab/unnatural_narratology/brtheses.doc (28.07.2012).



Christoph Bartsch, M.A.
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
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1Zu der hier nur knapp skizzierten Programmatik der ‚unnatürlichen Narratologie‘ siehe Richardson, Brian: „Theses on Unnatural Narratology“ (2008).); vgl. v.a. Richardsons achte These: „Unnatural narratology scorns the goal of universal narratological categories that are able to comprehend fictional and nonfictional texts; we assert that what is needed is a poetics of natural narratives and an anti-poetics of unnatural narratology.“

2Diesen Ansatz stellte Jan Alber schon vor der Publikation des Bandes in einem 2009 erschienenen Artikel „Impossible Storyworlds – and What to Do with Them“ vor, der als maßgeblicher Schlüsseltext der Theoriebildung zum ‚Unnatürlichen‘ angesehen werden kann.

3Ein Gedanke, der an das Konzept einer ‚literarischen Evolution‘ erinnert, das die Russischen Formalisten entwickelt haben.