Dragica Stojković

Narratives Verstehen

Brigitte Rath: Narratives Verstehen. Entwurf eines narrativen Schemas. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011. 216 S. EUR 24,-. ISBN 978-3-938808-99-3

Der Titel des Buches kündigt es an: Ausgangslage von Brigitte Raths Unternehmen ist nicht die Bestimmung von Texteigenschaften als Kennzeichen eines spezifischen Textgenres, sondern der Versuch, den Prozess des narrativen Verstehens als eine bestimmte Verstehensart zu modellieren. Das nötige Beschreibungsinstrument bietet der Schemabegriff der Kognitionspsychologie an, der für literaturwissenschaftliche Zwecke, spezifisch narratologische Fragen, weiterentwickelt wird. Der im ersten Kapitel erarbeitete Schemabegriff wird im zweiten Kapitel an einem Fallbeispiel (C. S. Lewis' The Lion, the Witch and the Wardrobe) hinsichtlich seiner Beschreibungs- und Erklärungskraft erprobt. Die so gewonnenen Einsichten werden im dritten Kapitel verallgemeinert, systematisiert und begründet – was in den Entwurf eines elaborierten narrativen Schemas mündet.

Im Folgenden werden das erste und das dritte Kapitel des Buches genauer vorgestellt und am Ende diskutiert. Auf die Darstellung des Fallbeispiels wird verzichtet, die Lektüre des Kapitels wird jedoch allen wärmstens empfohlen, die Einblick in die praktische Anwendung des narrativen Schemas erhalten möchten.

1. Entwicklung eines Schemabegriffs für die Narratologie

In der Einleitung situiert sich Brigitte Raths Arbeit als eine, die keiner bestimmten Forschungstradition zuzuordnen sei, aber doch wesentliche Anschlussstellen aufweise: So schließt die Grundidee des Vorhabens, ein narratives Schema zu entwickeln und sich auf den Prozess des narrativen Verstehens zu fokussieren, unter anderem an Arbeiten von Edward Branigan, Monika Fludernik und Thomas Mink an. Die Autorin nennt auch Schleiermachers Hermeneutik als wegweisend für den Entscheid, sich von Textmerkmalen ab- und Verstehensprozessen und damit auch der Kognitionspsychologie zuzuwenden.

Zuerst erhält der Leser eine Darstellung des Schemabegriffs der Kognitionspsychologie: Es handelt sich um holistische, die Wahrnehmung aktiv steuernde Konzepte, die Einzelinformationen kontextualisieren, aufeinander beziehen und den Verstehensprozess metakognitiv überwachen, wobei der Rezipient Wahrgenommenes durch Weltwissen ergänzt. In anderen Worten:

Schemata [sind in sich] strukturierte Wissenseinheiten, die aus verschiedenen Arten von Variablen mit Erwartungswerten und Verbindungen zwischen diesen Variablen bestehen […]. Wird ein Schema aktiviert, werden die Variablen sukzessive mit den entsprechenden verfügbaren konkreten Werten gefüllt; das Schema wird instantiiert. (S. 22-23)

Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Variablen sich gegenseitig restringieren, sprich, dass die Aktualisierung einer Variable Einfluss auf den Erwartungswert einer anderen Variable nimmt. Was sich so technisch anhört, ist ein Prozess, der täglich unzählige Male vollzogen wird. Denn „Schemata decken ein breites Spektrum von Wissen ab und dienen unter anderem dem Erkennen und Verstehen von Objekten, Situationen, Ereignissen, Ereignisfolgen, Handlungen und Handlungsfolgen“ (S. 24). Im Buch findet sich dazu eine Illustration anhand des folgenden Beispielsatzes: Molly setzte sich an die Bar. „Das Übliche“, sagte sie. Anhand von erworbenem Weltwissen wird mental vervollständigt, dass Molly ein Stammgast ist. Zugleich wird automatisch ein Barkeeper imaginiert, der die Bestellung hinter der Bar entgegennimmt. Diese Informationen werden im obigen Beispielsatz jedoch nicht explizit gegeben und ihre Hinzufügung vollzieht sich in der Regel mühelos und unbewusst.

Anschließend werden problematische Aspekte des Schemabegriffs der Kognitionspsychologie hervorgehoben und unter Berücksichtigung philosophischer und soziologischer Traditionen (insbesondere Kant und Schütz) sowie der Gestaltpsychologie entschärft. In einem dritten Schritt wird die narratologische Forschung (mit besonderem Augenmerk auf Branigan und Fludernik) vorgestellt. Raths Schemabegriff, auf dem die Entwicklung des narrativen Schemas basieren wird, steht am Ende des ersten Kapitels fest:

Ein Schema ist eine holistische, aktiv-produktive Datenstruktur, die aus bestimmten Typen von Variablen mit Wertebereich und Standardfüllungen und bestimmten Arten von restringierenden Verbindungen zwischen den Variablen besteht; für ein selbstregulierendes Schema gilt dabei, dass die meisten dieser Restriktionen erst mit den Variablenfüllungen im Schema eingeführt werden. […] Schemata leisten im Wahrnehmungs- und Verstehensprozeß folgendes: Sie modellieren die Untergliederung des Datenstroms, die Privilegierung bestimmter Daten, die Kontextualisierung gegebener sowie die Ergänzung von nicht verfügbaren Informationen. Zudem übernehmen sie durch ihre holistische Qualität metakognitive Funktionen. (S. 75)

Das narrative Schema soll erklären, weshalb zeitlich auseinanderliegende Ereignisse als Einheit wahrgenommen werden, wieso narratives Verstehen nicht an ein bestimmtes Medium gebunden ist (die Verarbeitung aber medienabhängig ist) und weshalb und wie es einen dynamischen Verstehensprozess leitet.

2. Entwurf eines narrativen Schemas

Anhand der folgenden Variablenkategorien, die aufeinander bezogen sind, werde narratives Verstehen gelenkt.

(1) Regeln: Zu dieser Kategorie werden Naturgesetze, Verhaltensregeln, aber auch Genreregeln gezählt; gemeinsam ergeben sie ein Regelwerk. Dieses Regelwerk muss konsistent sein und die Potenzialität der entworfenen Welt vorhersagen können.
(2) Individuen (Charaktere und Objekte): Individuen sind als Einheiten konstruiert und stehen in einer Spannung zwischen Selbigkeit und Veränderung, weshalb die Konstanz ihrer Füllungen sowie Verbindungen zu anderen Variablen im Kontrast zu ihrer Veränderung von zentraler Bedeutung ist. Die Implementierung von Individuen- und Regelvariablen geht meist Hand in Hand – so führt ein Hexenschema eine fiktive Welt ein, die Naturgesetze zugunsten von magischen abtreten lässt. Die Besonderheit der Individuenvariable ist, dass sie alle anderen Variablen in Form von Variablen zweiter Ordnung enthalten können. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Protagonist einer Geschichte Fantasien in Form von Hoffnungen oder Befürchtungen über mögliche Ereignisfolgen hegt, die wiederum auf Überzeugungen darüber, wie andere Charaktere den Fortlauf der Geschichte imaginieren und steuern (Variable dritter Ordnung), basieren können.
(3) Ereignisse: Ereignisvariablen sind Singularitäten, sie sind Phänomene des Hier und Jetzt, ihnen haftet ein raumzeitliches Moment an. Durch die Verbindung mit anderen Variablen können Ereignisvariablen detailliert und spezifiziert werden. Erhalten Ereignisvariablen eine unwahrscheinliche Füllung, was bei Widerspruch zum aktuellen Regelwerk der Fall ist, kann dies eine Revision der bisher geltenden Regeln auslösen.

Die genannten Variablen lassen sich auf zwei verschiedene Arten zu einander in Verbindung setzen: Durch horizontale Relationen zu anderen Variablen der gleichen Ebene und durch vertikale Relationen mit ähnlichen Variablen anderer Ebenen (also Variablen zweiter, dritter etc. Ordnung). Für die Beantwortung der Frage, wie Informationen zwischen verschiedenen Verstehensprozessen und wie Variablen innerhalb des narrativen Schemas abgegrenzt oder verschmolzen werden, führt das narrative Schema eine dreifache Differenzierung zwischen Innen und Außen, Figur und Grund ein:

(1) Für das narrative Schema relevante Informationen werden von irrelevanten (z.B. Schrifttyp, Satzspiegel) nach Außen abgegrenzt;
(2) marginalisierte Variablen (z.B. Namen von Bediensteten, denen für den Verlauf der Geschichte keine Relevanz zugesprochen wird) sind zwar Teil des narrativen Schemas, werden aber für den Verstehensprozess als irrelevant betrachtet (wobei sich dieser Status durch neue Variablenverknüpfungen verändern kann, was darauf verweist, dass sich das narrative Schema „seinen Verstehensskopus selbst schafft“ (S. 130));
(3) Normen und Erwartungen, die durch die bereits gefüllten Variablen entstanden sind, bilden einen Hintergrund, auf dem unerwartete, regelbrechende Ereignisse hervorgehoben erscheinen.

Die verschiedenen Variablen werden somit durch „wechselseitige Similaritäts-, Kontiguitäts- und regelgeleitete Verbindungen wesentlich relational bestimmt und werden auf immer wieder andere Weise miteinander verschmolzen und voneinander abgegrenzt“ (S. 203).

Wir rekapitulieren: Ein narratives Schema ist selbstregulierend. Zu Beginn sind demnach fast alle Variablen weitgehend unbestimmt. Aktiv leitet es den Verstehensprozess, „indem es ein – noch defizitäres – Ganzes als Ziel des Verstehensprozesses entwirft, auf das hin der Verstehensprozeß ausgerichtet ist […]“ (S. 129). Dabei sind die Regeln, die über Füllung und Verknüpfung der Variablen entscheiden, nicht a priori gegeben, sondern werden im Laufe des Verstehensprozesses sukzessive gebildet. Deswegen sind diese Regeln als Regelvariablen operationalisiert. Durch Erwartungsgenerierung und Instantiierungen wird der Verstehensprozess, Zentrum des narrativen Schemas, auf Adäquatheit und potenzielle Neuperspektivierung hin überwacht – subsummiert wird dieser Prozess unter dem Begriff metakognitive Funktion, die durch selbstähnliche Strukturen gefördert wird.

Spezifisch für ein narratives Schema ist, dass es selbstregulierend und selbstähnlich (im Sinne einer mise en abyme) ist, dass es horizontale und vertikale Reflexionen zwischen Variablen herstellt, dass es Variablenabgrenzungen sowie -verschmelzungen erzeugt und dass es anhand antizipierter Retrospektion Erwartungen über den weiteren Verstehensprozess produziert. Ein narrativer Verstehensprozess neigt sich seinem Ende zu, wenn sich die Erwartung etabliert, dass die noch ausstehenden Füllungen von Variablen im Vergleich zu den bereits instantiierten keine nennenswerten Veränderungen des narrativen Schemas herbeiführen werden; wenn die Anzahl bestehender Widersprüche, unklarer Abgrenzungen oder Regelmodifikationen sinkt und sich so Dynamiken des narrativen Schemas allmählich legen. Dafür müssen nicht alle Variablen gänzlich gesättigt sein – Letzteres zu versuchen, wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt.

3. Diskussion

Raths narratives Schema ist ein deskriptives Konzept, es ist kein Interpretationsinstrument für Inhalte eines als narrativ klassifizierten Werks. Im Gegensatz etwa zu Fluderniks Arbeit Towards a „NaturalNarratology macht Rath „keine Aussagen über die ontogenetische oder phylogenetische Entwicklung narrativen Verstehens oder über eine mögliche Universalität dieser Art von Verstehensprozessen“ (S. 10) – aber sie sieht ihr Modell als solide Grundlage „für Überlegungen zur Anthropologie des narrativen Verstehens und, in einem weiteren Schritt, zur Anthropologie des Erzählens“ (S. 11). Selbiges gilt für das „narrative Potential bestimmter Textsorten oder die narrative Fundierung von Identitätsbildung“ sowie die Mitberücksichtigung der Rolle von Affekten und Emotionen (S. 10).

Es ist ein Verdienst des Buches, keine spezifisch narratologischen Konzepte als Ausgangslage zu nehmen, weil das eine operationalisierbare Definition narrativen Verstehens erleichtert, die auch für sozial- und kulturwissenschaftliche Nachbarsdisziplinen anschlussfähig ist (S. 10). Hauptverdienst der Arbeit ist, dass „die meist implizit bleibende Grundlage eines Großteils narratologischer Forschung“ expliziert wird (S. 9). Dies geschieht mit beeindruckender Präzision und einer insgesamt angenehmen Leserführung – durch die Elimination einiger Wiederholungen hätte sich die Qualität der Lektüre indes verbessern lassen.

Störend ist, dass Rath am Ende der ausgezeichneten Einleitung ihre eigene Arbeit als spekulative benennt, ihr den Anspruch, richtig oder wahr zu sein, abspricht, und davon ausgeht, das narrative Schema habe „nur eine gewisse Erklärungsmacht“ (S. 11). Den spekulativen Charakter meint sie darin zu erkennen, dass narratives Verstehen nicht direkt beobachtbar und von den Neurowissenschaften noch nicht entdeckt worden sei. Das positivistisch-empirische Wissenschaftsverständnis, welches in den obigen Aussagen implizit mitschwingt, könnte ein Grund dafür sein, dass Rath auch, im Rahmen möglicher Modellerweiterungen, psychoanalytischem Gedankengut keinen Raum geboten hat. In dem von ihr entwickelten narrativen Schema ist das Subjekt, in und an welchem sich die narrativen Verstehensprozesse vollziehen, auf einen Schematräger reduziert. Subjektiven Einflüssen jenseits geteilten Weltwissens, die möglicherweise auch zu individuell abweichenden Variablenfüllungen führen könnten, wird keine Beachtung geschenkt. Beispielsweise wären Fragen nach der Interaktion von psychodynamisch motivierten Abwehrmechanismen und narrativen Verstehensprozessen interessant; selbiges gilt für den Einfluss von subjektiven Wunsch- und Angstwelten eines Subjekts auf die Art und Weise, wie fremde Narrationen verstanden werden.

Diese Kritik soll – auch wenn sie hier am Ende erscheint – Brigitte Raths Arbeit nicht mindern, deren Gründlichkeit im oft wuchernden Feld dessen, was Anspruch auf den Begriff „narrativ“ erhebt, wohltuend wirkt. Vielmehr ist sie als Denkanstoß für mögliche Erweiterungen und Revisionen der Konzeptualisierung narrativer Verstehensprozesse zu lesen.



Dragica Stojković, Master of Science in Psychologie
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Strasse 27
CH-4012 Basel
E-Mail: Dragica.Stojkovic@upkbs.ch

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