Valérie Leyh

Ausweitung und Grenzen der postklassischen Narratologie

Der Wille zur Vermittlung neuer Forschungsergebnisse in Frankreich

Pier, John / Berthelot, Francis (Hg.): Narratologies contemporaines. Approches nouvelles pour la théorie et l’analyse du récit. Paris: Éditions des archives contemporaines 2010. 274 S. EUR 28,-. ISBN 978-2813000200

Die Entstehung dieses Sammelwerks zu neuen narratologischen Forschungsansätzen geht aus besonderen Rahmenbedingungen hervor: Hinter dem dezenten Titel „Narratologies contemporaines“ verbirgt sich das gleichnamige französische Projekt, das sich innerhalb des Zentrums Centre de recherches sur les arts et le langage (CRAL) ausbildete und so an den die Forschung fördernden Centre National de la Recherche Scientifique (CRNS) gekoppelt ist. Zugleich wurde es aber auch in der Form eines jährlichen Seminars in das Masterprogramm (Master en sciences sociales) der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS) integriert.1 Sowohl die Forschung als auch die Vermittlung der Forschungsergebnisse in der Lehre liegen diesem Projekt von vornherein zugrunde. Unterschiedliche Aufsätze, die wenigstens zum Teil im Rahmen des Seminars „Narratologies contemporaines“ erarbeitet worden sind, werden in diesem Band erstmals gesammelt veröffentlicht. Dieser erhebt nicht den vermessenen Anspruch, ein „‚Panorama’ der zeitgenössischen Narratologie“ (S. 9) zu bieten, sondern möchte sich auf Ergebnisse neuer Entwicklungen der Narratologie beschränken. Ziel ist es auch, den – durch die internationale Forschung genährten – Aufschwung und die Erneuerung der Narratologie zu dokumentieren. Dass der renommierte Narratologe John Pier an der Quelle dieses Vorhabens steht und sich dadurch als Pionier der Grenzüberschreitung ausweist, verwundert kaum: Drei Jahre zuvor hatte er bereits einen Sammelband herausgegeben, der sich um die Vermittlung, die positive Beeinflussung und gegenseitige Befruchtung deutscher und französischer Narratologie bemühte. In dem Werk Théorie du récit. L’apport de la recherche allemande (Pier 2007) veröffentlichte er zahlreiche Artikel anerkannter deutscher Narratologen in französischer Sprache und förderte dadurch den internationalen Austausch.

Einstieg und Appell

Ansgar Nünnings Aufsatz (S. 15-44) widmet sich zunächst dem heiklen Unterfangen, ein synoptisches Bild der zahlreichen, schier unüberschaubaren aktuellen Ansätze zu bieten, und geht anschließend zu kritischeren Überlegungen über: Er plädiert für eine genauere und eingeschränktere Verwendung des mittlerweile sehr weiten und „inflationär“ (S. 16) benutzten Begriffs der Narratologie. Als Kennzeichen der postklassischen Narratologie erkennt Nünning erstens die komplexe Interaktion zwischen Text und kulturellem Kontext sowie zwischen den Textzügen und den Textstrategien innerhalb des Leseprozesses, zweitens eine Distanzierung von synthetischen Beschreibungen (wie sie für den Strukturalismus kennzeichnend waren) und eine Bewegung hin zu dichteren Darstellungen, drittens die Hinwendung zur Interdisziplinarität und zur dialogischen Aushandlung von Bedeutungen, viertens die Berücksichtigung weiterer Bereiche wie z.B. Kontext, Kultur, Gender, Geschichte und Leseprozess (vgl. S. 19f.). Anhand der unterschiedlichen Merkmale erstellt er anschließend seine in acht Abteilungen (und zahlreiche weitere Auffächerungen) untergliederte Kartographie der neuen Ansätze der Narratologie und spezifiziert an einigen deren Grad an Theoretisierung. Aus diesem Überblick sticht hervor, dass sich die Narratologie nun nicht mehr allein auf die Literaturwissenschaft bezieht, sondern zahlreiche andere Bereiche einschließt. Der Oberbegriff verliert dadurch allerdings an Schärfe, ja er riskiert, schwammig und ambig zu werden, was in Nünnings Augen zu beklagen ist. Mit einem Anflug von Humor und Selbstironie fordert er in diesem klar strukturierten Aufsatz eine deutlichere Unterscheidung der Begriffe „Erzählforschung“, „Erzähltheorie“ und „Narratologie“, setzt sich für einen regeren und präziseren Austausch zwischen narratologischen Theorien und Anwendungen ein und plädiert dafür, den Begriff Narratologie im engeren Sinne beizubehalten, für weitere Anwendungen aber neue Bezeichnungen zu suchen.

Präzisierung und Entfaltung von Begriffen

Drei weitere Aufsätze widmen sich einer Erneuerung bzw. Spezifizierung des Begriffsinstrumentariums. Philippe Roussin (S. 45-73) geht anhand einer genauen Analyse des Begriffs „récit“ zunächst der Genealogie des narratologischen Begriffs nach, bevor er diese Ausführungen dann zur Entwicklung eigener Standpunkte verwendet. Nachdem die Naturalisten im 19. Jahrhundert diesen Begriff zugunsten des „Romans“ pauschal abgewiesen hatten, greifen die Symbolisten im 20. Jahrhundert auf den „récit“ als besonders poetische, ludische und persönliche Form und als Opponent zum Roman zurück. Entscheidendes Kennzeichen des „récit“ ist damals schon der „narrative Akt“ (S. 49), der Äußerungsakt, der die Handlungssequenz und die Bearbeitung der Zeit stiftet und leitet. Daraus wird aber, nach Roussin, die Verwirrung ersichtlich, die zwischen dem als „Modalität der Äußerung“ (S. 49) zu verstehenden „récit“ und dem Roman als Gattung besteht: Es werden zwei unterschiedliche Kategorien irrtümlicherweise miteinander verglichen, um „Roman“ und „récit“ als Antipoden darzustellen. Erst ab den 50er Jahren sei dieses gegenseitige Ausschlussverfahren aufgehoben worden: In Roland Barthes’ Le Degré zéro de l’écriture wird der „récit“ nun nicht mehr als Alternative zum Roman, sondern explizit als Verfahren verstanden, das die Geschehnisse, die Geschichte organisiert, die sphärische Form (vgl. S. 57) und die Ordnung der Handlungskonstruktion leistet. Roussin geht in diesem theoretisch dichten Text anschließend zu einem weiteren Gegensatz über, zu den falschen Freunden histoire/discours, fable/sujet, in denen sich der Dualismus, die doppelte Perspektive des „récit“ als „discours“ einerseits und „histoire“ andererseits ausdrückt. Über den von dem russischen Formalismus geprägten Dualismus bzw. Binarismus der strukturalistischen Theorien, der zu einem Übermaß und einer ungerechtfertigten Dominanz in der Narratologie geführt habe, möchte Roussin nun hinausgehen. Die Ansicht, dass der „récit“ (hier auch in Genettes Sinn der „Erzählung“) als „zeitversetzte Relation“ (S. 65) zu verstehen sei, da sie im Präsens das ordne, was in der Vergangenheit geschehen ist, möchte er im Sinne der zeitgenössischen Narratologie revidieren. B. Herrnstein Smith zitierend, weist er auf die unbegrenzte Anzahl anderer „Erzählungen“ hin, die in den verschiedenen Kontexten durch den Leser aktualisiert werden können, und befürwortet damit letztlich die bereits vollzogene Durchbrechung binärer Strukturen zugunsten ternärer oder gar quaternärer Modelle. Zugespitzt formuliert bedeutet damit Roussins These, dass die „histoire“ aus dem „récit“, dem narrativen Akt, hervorgeht: Die „histoire“ besteht nicht schon davor (wie es sich klassische Theorien der Narratologie vorgestellt haben), sondern erfolgt erst aus dem „récit“.

Der Aufsatz von Klaus Meyer-Minnemann und Sabine Schlickers (S. 91-108) ist ein Teil des weiten, zwischen 2001 und 2005 in Hamburg geleiteten Projekts „Paradoxale Grenzüberschreitungen von Kommunikations- und/oder Seinsebenen literarischer Erzähltexte: Die narrativen Verfahren mise en abyme, Metalepse, Meta-/Hypo- und Pseudodiegese“. Im Zentrum dieser Arbeit steht der Begriff der mise en abyme. Dieses die „Doxa der Erzählung“ (S. 91) durchbrechende, somit zu den „Paradoxen der Erzählung“ gehörende Verfahren wird als „nivellierendes Erzählverfahren“ (S. 93) verstanden, das „durch die Analogien, die es zwischen den Äußerungsakten und den Äußerungsinhalten herstellt, auf paradoxe Art und Weise die Trennlinien in Frage stellt, die eigentlich die Einzigartigkeit der Erzählelemente garantieren“ (S. 93). Von den Definitionen Lucien Dällenbachs und Mieke Bals ausgehend, heben die Autoren neben dem Element der Spiegelung die Tatsache hervor, dass die mise en abyme immer „quantitativ kleiner sein muss als das Objekt, das sie spiegelt.“ (S. 95) Die Autoren unterteilen die mise en abyme anschließend in fünf Unterkategorien, unterscheiden die „horizontale mise en abyme des Äußerungsinhalts“ von der „vertikalen mise en abyme des Äußerungsinhalts“, die „horizontale mise en abyme des Äußerungsaktes“ anschließend von der „vertikalen mise en abyme des Äußerungsaktes“, alle vier Kategorien schließlich von der „mise en abyme der narrativen Poetik.“ Sie exemplifizieren diese an verschiedenen Beispielen, bevor sie daraus die vielfachen Funktionen der mise en abyme (hermeneutische, ästhetische, poetologische Funktion) ziehen und kurz erläutern.

Alain Rabatel (S. 109-137) möchte das Arsenal narratologischer Werkzeuge anhand des Begriffs des „point de vue“ (Perspektive) in dialogischer und interaktioneller Richtung und in Konfrontation zu Genettes Begriff der „Fokalisierung“ erneuern. Auch die „Perspektive“ soll begrifflich weiter gefasst und nicht mehr nur als Bericht der Wahrnehmung, sondern als „Gesamtheit von Modalitäten [...] verstanden werden, die (a) unterschiedliche Facetten der Wahrnehmungsberichte“ (S. 113) ausdrücken, (b) aus der „Mischung von Stimmen und von Bewusstseinsräumen“ (ebd.) hervorgehen und (c) als dialogische Phänomene aufzufassen sind. Mit zahlreichen Textbeispielen zeigt er die unterschiedlichen Ausformungen der möglichen Wahrnehmungsberichte. Darüber hinaus möchte er die Annahme Genettes revidieren, die Erzählfigur könne, im Gegensatz zum Erzähler, keinen Zugang zu den Gedanken der anderen Figuren haben. Sowohl aus phänomenologischer wie aus narratologischer und linguistischer Perspektive sei die Einschränkung des Raumes der Figur nicht zu rechtfertigen, wobei diese Kritik im Gegenzug mit einer deutlichen Relativierung der ontologischen Allwissenheit des Erzählers einhergeht. In Frage gestellt bzw. neu gedacht wird hier auch die von Genette definierte Trennung zwischen Erzählmodus und Erzählstimme. Wenn die Erzählung außerdem in dialogischem Sinne verstanden werden soll, verschiebt sich der Akzent vom festgelegten Äußerungsinhalt zum Äußerungsakt, an dem – erneut aus postklassischer Perspektive – auch der Leser, als die dritte Figur im Dialog, teilhat.

Übergänge – Gattungsorientierte Studien

In zwei weiteren Artikeln liegt der Schwerpunkt auf gattungsspezifischen Aspekten. Francis Berthelot (S. 75-89) möchte die Identität von solchen Texten hervorheben, die sich auf der Schwelle zwischen der von ihm als „allgemein“ bezeichneten Literatur und der Literatur des „Imaginären“ (S. 75) befinden. Diese Texte seien Werke, die sowohl mit den Regeln der einen als auch der anderen Welt brechen und somit als „transgressive Fiktionen“ bzw. „Transfiktionen“ definiert werden. Der deskriptiv gehaltene Artikel schildert anschließend die möglichen Transgressionen aus einer thematischen (z.B. Transgression zeitlicher und wissenschaftlicher Gesetze) und einer diskursiven Perspektive (z.B. Transgression durch die Erzählweise) und liefert ein Kaleidoskop von Werken, die als Transfiktionen zu betrachten sind.

Am Beispiel des Exemplums zeigen Jean-Michel Adam und Ute Heidmann (S. 157-171) wiederum, dass jeder literarische Text aus einem doppelten Prozess hervorgeht, einerseits aus einem „Modus der Textualisierung (narrativ, deskriptiv, argumentativ, explikativ oder dialogisch)“, andererseits aus einer sich etablierenden Gattungshaftigkeit, einer „Generizität“, die jeden Text mit dem Gattungssystem einer „diskursiven Gemeinschaft“ verbindet (S. 157). Die unterschiedlichen Gattungen entsprechen dann verschiedenen Möglichkeiten, ähnliche Geschichten zu „textualisieren“, sie hängen davon ab, wie weit der Prozess der „mise en intrigue“ geführt wird. Das erste angeführte Beispiel, das die Form der Verarbeitung eines Exemplums darstellt, stammt aus den Spectacles d’horreur (1630) von Jean-Pierre Camus. In diesem Text steuert das moralische Prinzip die Organisation der unterschiedlichen Erzählteile und die Interpretation des Textes. Zwei Beispiele aus den 1812 erstmals erschienenen Grimmschen Kinder- und Hausmärchen zeigen daraufhin, dass die Reduktion der Erzählung zu anderen Zwecken beiträgt: Die erste dieser Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben betitelten Erzählungen geht auf einen Artikel aus Kleists Berliner Abendblättern zurück und entspricht in den Hauptzügen einer journalistischen Behandlung, wobei das Ende, das sich als salomonisches Urteil gestaltet, auf biblische Legenden hinweist und dadurch den moralischen Wert gewährleistet; im zweiten Fall erhöht die zu einem Minimaltext geschrumpfte Erzählung den Aspekt des Schreckhaften und nähert sich einem Schreckmärchen. Aus diesen interessanten Beobachtungen schließen die Autoren, dass die unterschiedliche Gattungsmäßigkeit mit der „Gradualität jeder ‚mise en intrigue’“ (S. 169) verbunden ist und die Wahl der Gattung den Grad an moralischer Lehre und mithin die mehr oder weniger explizite Leitung der Interpretation bestimmt (vgl. S. 170).

Leserzentrierte Interpretationsansätze

John Pier und Raphaël Baroni eröffnen ihrerseits neue Perspektiven für die Textanalyse. „Narrative Konfigurationen“ lautet der Titel von Piers Aufsatz (S. 173-197), der durch einen komplexen Begriffsapparat eine intertextuelle Narratologie fundieren will. Die intertextuellen Anspielungen in Vladimir Nabokovs Lolita möchte Pier nicht im strukturalistischen Sinne als autonome Bedeutungsschicht verstehen, sondern als eine durch den Leser ausgeführte Aktualisierung von narrativen Funktionen und intertextuellen „Frames“ (S. 174). Anhand dreier intertextueller Frames (der trauernde Liebende, der Doppelgänger, das Dreieck), die in diesem Werk heraufbeschworen werden, baut Pier seine Theorie auf und vertritt folgende These: „Durch die Strukturierung der Funktionen und der narrativen Frames besitzen die Geschichten eine Konfiguration, wobei sie selbst aus einem Konfigurationsakt hervorgehen; Intertextualität ist also eine Bedingung der Narrativität.“ (S. 174) Nachdem er Louis O. Minks Begriff der „Konfiguration“ als „individuelle[n] Akt des Zusammenführens“ (S. 174) und Form des Verstehens erläutert hat, schöpft Pier auch aus Umberto Ecos Theorien. Neben dem Begriff der Enzyklopädie ist ihm vornehmlich die Theorie der unterschiedlichen Abduktionen (überkodierte, unterkodierte, kreative Abduktionen sowie Meta-Abduktionen) dienlich. Besonders einträglich sind die zwei letztgenannten Abduktionssorten, die gerade in Fällen von besonderer Ungewissheit, von Risiko und Rätselhaftigkeit eintreten und es dem Leser dann in diesen Situationen fehlender Erklärbarkeit ermöglichen, eine eigene Regel zu erfinden (vgl. S. 180). Indem er diese Theorie mit Michael Riffaterres Unterscheidungen von heuristischer („naiver“) und semiotischer („kritischer“) Lektüre sowie von Bedeutung und Signifikanz verbindet, kann er die Konfiguration intertextueller Frames, über den ersten Sinn des „Zusammenführens“ hinaus, auch in einem zweiten Sinn charakterisieren: Die Konfiguration intertextueller Frames entspricht dann der „Signifikanz“, also einem „Resultat abduktiver Operationen und einer Handhabung der intertextuellen Spuren bei der heuristischen und semiotischen Lektüre“ (S. 185). Aus den jeweiligen Hypothesen, die im Laufe der Erzählung bestätigt oder verneint werden, kann die Struktur der intertextuellen Anspielungen innerhalb des Erzählganzen hervorgehen. So birgt Nabokovs Text u.a. subtile Reminiszenzen an E.A. Poes Annabel Lee und William Wilson, an Gottfried August Bürgers Lenore und Goethes Erlkönig, die Pier bis ins Detail ausarbeitet. Einige dieser aktualisierenden Frames werden aber wiederum von anderen Details im Text in Frage gestellt, sodass sich in dieser Behandlung intertextueller Quellen neue Querverbindungen, neue Vermutungen und Abduktionen anderer, höherer Ordnung ergeben.

Das Interesse für die Lesertätigkeit verbindet diesen Aufsatz unmittelbar mit demjenigen Baronis zur „Réticence de l’intrigue“ (Verzögerung der Handlungsführung) (S. 199-213), der sich als eine neue, von den Ergebnissen der Semiotik Peirces und Ecos sowie der kognitiven Narratologie beeinflusste Lektüre der „intrigue“ zu erkennen gibt. So soll die Sequenzbildung, in der Auseinandersetzung mit den immer wieder als überholt verstandenen strukturalistischen Studien, nun auch in einer „diskursiven, kontextuellen, pragmatischen, kognitiven und affektiven Lektüre der Erzählungen“ (S. 199) untersucht werden. Um die Begriffe der „intrigue“ und der „narrativen Sequenz“ neu zu definieren, greift er auf Boris Tomaševkijs 1925 entstandene Theorie der Literatur zurück, von der man – Baroni nach zu Unrecht – nur die Fabel-Sujet-Problematik behalten habe, obwohl aus ihr auch Beobachtungen zur Dynamik innerhalb der Textstrukturierung zu gewinnen seien. Baroni interessiert sich zudem für den von Barthes geprägten Begriff der „réticence“, unter dem die Erzeugung einer Erwartung beim Leser verstanden wird. Der Aufbau der „intrigue“ wiederum ermöglicht es, die Handlung im „Knoten“ („nœud“) zu schürzen und eine Spannung zu erzeugen, die den Leser dazu führt, die Auflösung („dénouement“) bereits selbst, anhand von Inferenzen zu konstruieren (vgl. S. 201). Die „narrative Spannung“ kann insofern auch den dialogischen Charakter der Sequenz hervorheben: Sequenzbildung, „mise en intrigue“ (bei Ricœur auf Deutsch durch „Fabelkomposition“ übersetzt) und narrative Spannung verlaufen nicht unabhängig voneinander, sondern sind unmittelbar miteinander verflochten. Dass die narrative Spannung zeitweilig in Ungnade gefallen oder gar vergessen worden ist, erklärt Baroni dadurch, dass sie erstens schlichtweg mit der Unterhaltungsliteratur und marktorientierten Faktoren assoziiert und zweitens unabhängig von der kognitiven und affektiven Teilnahme des Lesers am Aktualisierungsprozess betrachtet worden ist. Bereits in Tomaševskijs Werk wird die „intrigue“ nicht allein über die Konfliktsituation definiert, die die dramatische Bewegung hervorbringt und eine Situation der Versöhnung erfordert, sondern auch über die Wirkung, die sie beim Leser erzielt; hierin distanziert sich die „intrigue“ also von einem immanenten Verständnis von Handlungssequenzen (vgl. S. 206). Neben dieser Konfliktsituation, die Baronis schlüssigen Argumenten zufolge nur eine Form jener „instabilen Ereignisse“ (S. 207) darstellt, die eine Spannung zu erzeugen vermögen, ist überdies auch eine zweite Form der „mise en intrigue“ möglich. Sie äußert sich als zeitliche Retardierung und führt zu einer Rätselsituation, die wiederum beim Leser eine Neugier auf das Geheimnis auslöst (S. 209). Im Rückbezug auf Tomaševskijs, aber auch auf Meir Sternbergs Theorien definiert er daher zwei unterschiedliche Modalitäten der narrativen Spannung, die die „mise en intrigue“ fundieren: einerseits den „Suspense“ (Spannung2), der auf kognitiver Ebene „eine ungewisse, die Auflösung antizipierende Prognose erzeugt“ (S. 210); andererseits die Neugier, die wiederum, da die Handlung als unvollständig dargestellt wird, der Produktion einer ungewissen Diagnose gleichkommt. Baroni, der in diesem Aufsatz Überlegungen vorstellt, die er umfassend in seiner Studie zur narrativen Spannung (Baroni 2007) dargelegt hat, rundet seine Argumentation schließlich mit der aus postklassischer Perspektive aufschlussreichen Beobachtung ab, dass die Prognosen und Diagnosen des Lesers letztlich die konstitutive Ungewissheit hervorheben: „Die Schürzung ist ein Induktor von Ungewissheit, sie erzeugt Hypothesen, und die Auflösung ist nur eine der Zukunftsmöglichkeiten der Erzählung.“ (S. 212)

Über klassische Philologie, Psychologie und Musik – der Anspruch der Interdisziplinarität

Wie bisher an einigen Aufsätzen deutlich geworden ist, gehört zu den grundlegenden Erneuerungsformen der Narratologie der Anspruch, die Forschung nun auch inter- bzw. transdisziplinär anzulegen. Drei Aufsätze kommen diesem Anliegen nach und wagen es, die weiterhin bestehenden Schranken der literaturwissenschaftlichen Narratologie zu durchbrechen und dabei zugleich auf Grenzen und Demarkationslinien zwischen den verschiedenen Disziplinen hinzuweisen.

Jean-Marie Schaeffer (S. 215-231) untersucht das Erzählen als „anthropologisches Investigationsobjekt“ (S. 216) und bemüht sich in dieser kognitiven Behandlung darum, drei verschiedene Ebenen aufeinander zu beziehen: die neurologische Ebene der Gehirnbereiche, die kognitive Ebene der mentalen Prozesse und die narratologische Analyse. Wo die Korrelation der beiden ersten Bereiche keine Schwierigkeiten verursacht, stellt sich die Verknüpfung mit dem narratologischen Bereich als komplexer heraus, was u.a. dadurch bedingt ist, dass die Untersuchungsmethoden auseinanderdriften: Während die neurologischen und kognitiven Studien auf experimentellen Methoden basieren, bezieht sich die Narratologie stärker auf die linguistische und semiotische Beschreibung (vgl. S. 218). Eine Vereinbarkeit der verschiedenen Methoden sei bisher noch nicht erreicht, wohl aber seien Gemeinsamkeiten festzustellen. So haben die Arbeiten im kognitiven Bereich, die sich parallel zu den strukturalistischen Studien und zum Teil sogar mit Blick auf diese Theorien entwickelt haben, zu Verschiebungen in der strukturalistischen Narratologie geführt: Die Textanalyse habe sich dahingehend gewandelt, dass sie die Art und Weise analysiere, wie die Leser sich das vom Text Beschriebene mental vorstellen (vgl. S. 225), dass sie den Fokus also von der Produktion auf die Rezeption verrückt habe. Die von Schaeffer dargestellten Entwicklungen und Verschiebungen im Bereich der kognitiven Untersuchungen führen schließlich zu seiner Hauptthese, die sich als eine vorsichtige, aber offene Kritik der bisherigen Arbeiten im Bereich der kognitiven Narratologie (Manfred Jahn, David Herman) herausstellt: Die unterschiedlichen Herangehensweisen sowie vor allem die verschiedenen Orientierungen beider Bereiche (die deskriptive Kraft der kognitiven Studien und die explikative Kraft der narratologischen) seien nur dann überbrückbar, wenn sie ihre jeweiligen Stärken austauschten.

Claude Calame (S. 140-155) prüft neuere Ergebnisse und Begriffe der Narratologie im Bereich der klassischen Philologie, und zwar u.a. an Texten der griechischen Dichterin Sappho und entwickelt daraus ihre eigenen Analyseinstrumente. Erste Angelpunkte ihres Aufsatzes sind die problematischen Begriffe des Autors und des „lyrischen Ichs“. Für die Behandlung der Stimmen in antiken Texten möchte sie den Begriff einer „Äußerungsinstanz“ einführen und auf die „Autorität der Äußerung“ zurückgreifen, um die komplexe Funktion der biographischen Autorität zu umgehen. Die Frage der Identität des Ichs möchte sie anschließend durch den weiteren Begriff des „melischen Ichs“ (S. 144) lösen, der es auch ermöglicht, die Chorformen griechischer Gedichte (im Ritual des Gesangs), die narrative Polyphonie dieser Texte zu berücksichtigen. In einem zweiten Schritt hinterfragt sie die Stichhaltigkeit von Intertextualitätsthesen mit Bezug auf griechische Werke. Im Gegensatz zur römischen Literatur, in der sich diese Analysen durchgesetzt und zu bedeutenden Resultaten geführt hätten, seien sie für griechische Texte insofern nicht immer adäquat, als man z.B. bei Sappho nicht von „’Homerreminiszenzen’“ (S. 149) sprechen sollte, sondern von parallelen poetischen Traditionen, selbst wenn sie miteinander in Kontakt gewesen seien (vgl. S. 150). Auch hier kann die Äußerungsinstanz nicht umgangen werden: Begriffe wie „Autor“ und „Authentizität“ sind irrelevant, müssen durch die Funktion der Autorität der Äußerung substituiert werden, die sich wiederum als Maske herausstellt, da das Profil der Autorität „von einer ‚Performanz’ zur anderen“ (S. 152), von der gesungenen Ausführung zur späteren Textfassung variiert.

Im letzten Aufsatz liefert Márta Grabócz schließlich einen instruktiven Überblick über die Verwendung narratologischer Begriffe im Bereich der Musik (S. 232-265). Obwohl Berthelot rund 150 Seiten zuvor behauptet, die Musik sei „an sich weder Modus der Darstellung noch der Narration“ (S. 83), versucht Grabócz in ihrem an Informationen fast überquellenden Aufsatz gerade das Gegenteil zu beweisen. Sie stellt Beziehungen zwischen narrativen und semiotischen Kategorien und den intrinsischen Strukturierungsmöglichkeiten der Musik her und bezieht sich auf zahlreiche, zum Teil eigene Erforschungen der „Intonation“ und der „Topiken“ im Bereich der Musik. Illustriert werden die Theorien an Beispielen unterschiedlicher Epochen, u.a. an einer „Polonaise-Fantasie“ Chopins, in der sich „typische Strategien romantischer Dramaturgien“ (S. 251) und der Binarismus zwischen euphorischen und dysphorischen Werten (vgl. ebd.) manifestieren. Die Anwendung narratologischer Begriffe für die Analyse musikalischer Werke bringt Grabócz zufolge verschiedene Vorzüge: Nicht nur können die historischen Stilrichtungen besser definiert werden, sondern die narrative Analyse bietet auch einen „analytischen Rahmen zur komparatistischen Untersuchung unterschiedlicher Kunstformen derselben Epoche“ (S. 254), sie ermöglicht es, herausragende oder abweichende sowie die affektiven Strukturen besser zu beschreiben. Der Aufsatz endet mit einem Glossar, das unterschiedliche Definitionen der Begriffe liefert. Auch dem Begriff „Narratologie“ ist ein längerer Eintrag gewidmet: Er führt hierdurch, in diesem interdisziplinär angelegten Aufsatz, zu Nünnings Ausgangsfrage zurück, und zwar zu den Ausweitungsmöglichkeiten und Grenzziehungen innerhalb der Narratologie.

Fazit

Ein kundiger Narratologe wird mit Recht nach der Lektüre dieser Rezension den Einwand erheben, diese „neuen Ansätze“ (approches nouvelles) seien doch nicht alle so neu, wie es der Titel anfangs andeutet. In der Tat sind die Vorträge alle schon zwischen 2003 und 2006 gehalten worden. Auch ist Nünnings Aufsatz bereits 2003 (in englischer Fassung), Piers Beitrag 2004 (ebenfalls in englischer Fassung) publiziert worden. Letzteres mag man bedauern und als ‚Schwäche’ des Bandes auffassen, man kann es aber auch aus einer anderen Perspektive betrachten und darin einen Versuch sehen, den Prozess der Überschreitung von sprachlichen Grenzen, die zugleich Grenzen in der Wissenschaft sein können, voranzutreiben. Die Arbeit, diese in der heutigen lingua franca verfassten und bereits in der internationalen „Narratologia“ erschienenen Aufsätze ins Französische zu übersetzen, kann als unzeitgemäßes, rückwärts gewandtes Verhalten betrachtet werden, oder aber – fernab jeder nostalgischen Geste – als Möglichkeit gedeutet werden, das Privileg der Englischsprechenden zwar nicht zu tilgen, jedoch den durch die Dominanz des Englischen „extremely asymmetric streams of communication“ (Martínez 2012, 136) etwas entgegenzusteuern. Aus dieser Sicht erweist sich dieser auf Französisch verfasste Band, der Ergebnisse aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz (Baroni, Adam) zusammenbringt, als verdienstvoller und allem Anschein nach auch gelungener Akt der Vermittlung. Vom deutschen Standpunkt aus wäre es natürlich wünschenswert, wenn auch die französischen Beiträge dem deutschen Leser bald zugänglich gemacht würden. Dass z.B. Baronis aufschlussreiche, bisher einzig auf Französisch verfasste Beiträge noch wenig verbreitet sind, wird sich hoffentlich durch die vielversprechenden Vernetzungen, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, bald ändern. Im „Living Handbook of Narratology“, einer weltweit verfügbaren Ressource der Erzähltheorie mit Beiträgen von renommierten Narratologen internationaler Provenienz, finden diese Arbeiten schon Berücksichtigung.

Mit dem Anspruch auf Vermittlung geht auch der Wille einher, in den Aufsätzen nicht nur scharfsinnige Argumentationen vorzustellen, sondern sie anhand von Beispielen anwendungsorientierter zu gestalten und ihnen eine klare, dadurch besonders überzeugende Form zu geben. Dies ist vielen geglückt, auch wenn die Gesamtstruktur des Bandes dann doch etwas undurchsichtig bleibt, weshalb die Aufsätze hier nach einer eigenen Strukturierung behandelt wurden. Wo einzelne Beiträge trotz der feinsinnigen Präzision, mit der sie verfasst sind, dennoch einige kritische Fragen aufwerfen, hängt dies vor allem damit zusammen, dass sie an zahlreiche vorher veröffentlichte Monographien und Aufsätze zu diesem Thema (im Falle Rabatels) oder an einem umfassenderen Projekt (im Falle von Meyer-Minnemann und Schlickers) anknüpfen. Für ein gründliches Verständnis, z.B. für eine eindeutige Unterscheidung zwischen den hier einerseits terminologisch genau festgelegten, andererseits aber auch breiter aufgefassten Formen der mise en abyme und anderen Verfahren der Spiegelung (z.B. Metanarration und Metafiktion), müsste der Leser auch die weiteren Texte der jeweiligen Forscher rezipieren. Besonders hervorzuheben ist allerdings der Dialog, der zwischen den einzelnen Beiträgen festzustellen ist und dem Leser wertvolle Anregungen für weitere produktive Verknüpfungen liefert.

Dieser sehr anspruchsvolle Band, der sich an narratologisch vorgebildete Leser richtet, bietet eine reichhaltige und vielfältige Lektüre zu unterschiedlichen Themen und integriert zudem sehr anregende selbstkritische Beobachtungen und Reflexionen, die die heutige Narratologie durchaus weiterführen können. Indem Schaeffer seine Kritik auf die Interdisziplinarität bezieht, trifft er zudem den Nerv der Zeit und einen aktuellen Engpass der Narratologie.3 Dass dieses vielschichtige Buch den Akzent auf Austausch, Vermittlung und Selbstkritik legt, zeugt aber von dem festen Wunsch seiner Herausgeber und Beiträger nach Ausbau und Fortentwicklung.

Literaturverzeichnis

Baroni, Raphaël (2007): La Tension narrative. Suspense, curiosité et surprise. Paris.

Martínez, Matías (2012): Dos Passos instead of Goethe! Some observations on how the history of narratology is and ought to be conceptualized“. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 1 (H. 1), S. 134-142. URN: urn:nbn:de:hbz:468-20121121-123208-7 (18.04.2013).

Nünning, Ansgar (2003): Narratology or Narratologies? Taking Stock of Recent Developments. Critique and Modest Proposals for Future Usages of the Term“. In: Tom Kindt / Hans-Harald Müller (Hg.): What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin / New York (= Narratologia Bd. 1), S. 239-275.

Pier, John (2004): „Narrative Configurations“. In: John Pier (Hg.): The Dynamics of Narrative Form. Studies in Anglo-American Narratology. Berlin / New York (= Narratologia Bd. 4), S. 239-268.

Pier, John (2007) (Hg.): Théorie du récit. L’apport de la recherche allemande. Villeneuve d’Ascq.

Scheffel, Michael (2012): „Nach dem ‚narrative turn‘: Handbücher und Lexika des 21. Jahrhunderts“. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung / Interdisciplinary E-Journal for Narrative Research 1 (H. 1), S. 43-55. URN: urn:nbn:de:hbz:468-20121031-151117-7 (18.04.2013).



Valérie Leyh, M.A.
Aspirante FNRS
Université de Liège / FNRS (Fonds National de la Recherche Scientifique)
Département de Langues et Littératures modernes
Service d’allemand
Place Cockerill 3-5
B-4000 Liège
Belgique
URL
: www.cea.ulg.ac.be

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1 Siehe dazu die Webseite dieses Projekts: http://narratologie.ehess.fr/index.php?id=30.

2 Im Französischen wird hier somit zwischen zwei Ebenen der Spannung unterschieden, zwischen einer allgemeinen, mit Sequenzbildung und „mise en intrigue“ verbundenen Makroebene und einer spezifischeren Modalität, die die Spannung der Makroebene im Text aktualisiert.

3 Auf die Notwendigkeit neuer Verbindungen und Brücken verweist zuletzt Michael Scheffel. Vgl. Scheffel (2012, 54).