Birte Fritsch

Zwischen Theorie und Praxis

Eine Einführung in die Narratologie im Spagat zwischen problemorientierter Theoriedarstellung und literaturwissenschaftlicher Textanalyse

Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Unter Mitarbeit von Matthias Aumüller, Benjamin Biebuyck, Anja Burghardt, Jens Eder, Per Krogh Hansen, Peter Hühn und Felix Sprang. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2008. 311 S. EUR 19,95. ISBN 978-3-476-02226-4

Die große Menge narratologischer Einführungen ist ein deutliches Indiz für die eminente Bedeutung, die dem Erzählen derzeit zugeschrieben wird. Je mehr über dieses Phänomen geforscht wird, desto mehr Bedarf an Orientierung gibt es, die Einführungen zu geben versprechen. Der hier zu rezensierende Band möchte zugleich die narratologische Modellbildung vorstellen und Hilfestellung für die Anwendung in der literaturwissenschaftlichen Praxis leisten. Es ist sein erklärtes Ziel, dem Leser „ein narratologisch fundiertes begriffliches und methodisches Instrumentarium an die Hand [zu] geben, mit dem die – größtenteils, aber nicht durchweg – vorinterpretative Erkundung und Beschreibung eines erzählenden Texts systematisch durchgeführt werden kann“ (S. IX).

Im Vergleich zu anderen Einführungen liegt hier folglich ein deutlicher Fokus auch auf der pragmatischen Ebene, der sich vor allem in der lernerorientierten Aufarbeitung der vorgestellten Modelle widerspiegelt.

Von der Auseinandersetzung mit dem Erzählen und seiner Geschichte.
Die einleitenden Kapitel

Die inhaltliche Konzeption des Bandes unterscheidet sich auf den ersten Blick wenig von der Herangehensweise ähnlicher Veröffentlichungen: Zunächst wird die Frage nach dem Erzählen und seinen Eigenschaften gestellt (Kap. I). Der Orientierung dienlich ist hierbei die abschließend formulierte Begriffssystematik, die die vorgenommenen Definitionen in Abgrenzung zu den Termini anderer Erzähltheorien in Bezug setzt und somit nicht nur Missverständnissen vorbeugt, sondern ebenso das Verständnis erleichtert. Bereits hier wird das weite Spektrum der Modelle vor Augen geführt, und gleichzeitig werden in transparenter Weise Akzentuierungen vorgenommen – wie etwa die intensive Auseinandersetzung mit dem Ansatz Wolf Schmids ([Erzähl]Perspektive, Instanzen des Erzählwerks).

Es folgt ein historischer Abriss der Erzähltheorie(n), der dem Überblick über ausgewählte historische Stationen bis hin zur zeitgenössischen Narratologie eine Zusammenfassung der antiken Vorläufer voranstellt, deren Nähe zum Original besonders hervorzuheben ist (Kap. II).

In Annäherung an den eigentlichen Kern des Bandes werden daraufhin in Kap. III verschiedene „Zugänge zum Erzähltext“ vermittelt. Zunächst werden der reale Autor und andere Autorkonzepte (wie impliziter bzw. abstrakter Autor) diskutiert, dann (mit Genette) Paratexte und abschließend Genres von Erzähltexten erläutert.

Die Trias der Dimensionen.
Das Hauptkapitel

Das IV. Kapitel nimmt fast zwei Drittel des gesamten Buchumfangs ein und präsentiert zentrale textanalytische Kategorien. Es ist in drei große Abschnitte unterteilt, die mit der Segmentierung des Erzähltextes gemäß seinen „drei Dimensionen“ übereinstimmen: Erzähler, Diskurs und Geschichte. Auffällig ist die prominente Stellung, die hier die Kategorie des Erzählers erhält.1

Die drei Dimensionen werden jeweils nach Parametern ausführlich erörtert und darüber hinaus konkurrierenden Modellen und Typologien gegenübergestellt, sodass bezüglich der Parameter des Erzählers Stanzels Typenkreis neben der überwiegend an Genette orientierten Theorie des Verhältnisses des Erzählers zur erzählten Welt gleichberechtigt Erwähnung findet (Kap. IV.1).2 Auch die Repräsentationsebenen des Erzählers werden mit Schmids numerischer Benennung wiedergegeben (primäre, sekundäre usw. Erzählebene anstelle von extra-, intra- und metadiegetischer Erzählebene). Darüber hinaus werden das zeitlogische Verhältnis zum Geschehen und die Darstellung des Adressaten angesprochen.

In Bezug auf den Diskurs (Kap. IV.2) finden sich zunächst die zu erwartenden Ausführungen, die – abgesehen von der Infragestellung des Fokalisierungskonzeptes Genettes zugunsten einer Übernahme der Perspektive nach Schmid – andernorts unter dem Teilaspekt Modus abgehandelt werden.3 Bezüglich der Präsentation von Erzähler- und Figurenrede wird hier jedoch deutlich zwischen der Wiedergabe sprachlicher Äußerungen und mentaler Prozesse unterschieden. Mit dem Konzept der Textinterferenz findet zudem noch ein weiteres an Schmid orientiertes Modell seine Aufnahme in den vorliegenden Band (S. 129-132). Anders als Drei-Stufen-Modell der Redewiedergabe (S. 120-129), basiert das Textinterferenz-Modell auf Zweistimmigkeit, d.h. es werden lediglich zwei Redeweisen unterschieden: Die Figurenrede, die einzig und allein „als Zitat der Figur in direkter Rede“ zu verstehen ist, und Erzählerrede, „die aus allen übrigen Textanteilen besteht und auch die durch den Erzähler bearbeitete Wiedergabe der Figurenrede umfasst (im Drei-Stufen-Modell die transponierte und die erzählte Rede)“ (S. 129). Bezüglich sämtlicher Formen der Erzählerrede lassen sich Erzähltextpassagen (anhand einer am Konzept der Perspektive orientierten Merkmalsmatrix) hinsichtlich einer narratorialen oder figuralen Prägung hin analysieren. Die beschriebene Interferenz von Erzählertext und Figurentext ist (mit Schmid) die Textinterferenz.

Es folgen Ausführungen zu zeitlichen Relationen zwischen Diskurs und Geschichte: Nach der Dichotomie von Erzählter Zeit und Erzählzeit – mit einem Exkurs zur Erzählerzeit – folgt mit Genette die Analysetrias Ordnung, Dauer, Frequenz. Auch hier wird dem state of the art Rechnung getragen, indem gerade bezüglich der durchaus diskussionswürdigen Kookkurrenz von Ereignissen und ihrer Darstellung der Begriff der Simullepse eingeführt wird (S. 140). Laut Schmid ist gleichzeitiges Erzählen nicht möglich, als hilfreiches Instrumentarium zur Analyse literarischer Erzähltexte in der Praxis ist die Kategorie der Simullepse wohl aber unverzichtbar. Im zweiten Teil der Abhandlungen (Kap. IV 2.4 ff.) bezüglich der Analyse des Diskurses werden neben der Frage der Zuverlässigkeit des Erzählens (Kap. IV 2.6) auch solche Konzepte diskutiert, die im Rahmen einer Einführung nicht unbedingt zu erwarten sind, wie Erörterungen zur Wissensvermittlung und Informationsvergabe im Rahmen des Diskurses (Kap. IV 2.4), Ausführungen zu Metanarration und Metafiktion (Kap. IV 2.5) und zu Merkmalen des Stils (Kap. IV 2.7), v.a. unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten.

Eben solche Abschnitte finden sich in kaum einer vergleichbaren Publikation dieser Art.4

Im letzten Teilabschnitt des Hauptkapitels werden Parameter der Geschichte referiert: Aspekte der Thematik, Handlung, Figuren, Aspekte des Raumes und der zeitlichen Situierung. Besonders die Ausführungen zur Handlung (Kap. IV 3.2) stellen anschaulich Theorien und Modelle einander gegenüber, um letztlich ein geringfügig abgewandeltes Konzept des idealgenetischen Modells W. Schmids zu etablieren. Praktische Anwendungsbeispiele kontrastieren im selben Kapitel Typen der Handlungsanalyse und veranschaulichen didaktisch sehr ertragreich aufbereitet die einzelnen Methoden (u.a. die move-Grammatik Thomas Pavels).

Ein Übertrag auf weitere Anwendungsgebiete.
Das letzte Kapitel

Abschließend wird kursorisch auf das Erzählen in den Gattungen Lyrik und Drama und in audiovisuellen Medien eingegangen (Kap. V). Auch in dieser Übertragung offenbaren sich ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der vorliegenden Einführung und ihr Versuch, ein möglichst aktuelles und vollständiges Abbild der Narratologie und ihrer Entwicklungstendenzen zu geben und dem Zielpublikum zugänglich zu machen.

In der gebotenen Vielfalt die Übersicht bewahren.
Layout und Hilfsmittel

Neben der klaren und übersichtlichen Strukturierung ist auch die optische Aufbereitung des Bandes der nutzerfreundlichen Gliederung zuträglich. Insbesondere im zentralen IV. Kapitel des Bandes sorgen grafisch aufgearbeitete Übersichtsdarstellungen mit paraphrasierten Zielsetzungen und Aspekten für Orientierung. Der Gesamtzusammenhang wird stets im Blick behalten.

Farbig unterlegte Textfelder und Rahmungen heben Zusammenfassungen und Ergänzungen ebenso wie Definitionen philologischer und philosophischer Grundbegriffe vom Fließtext ab. Tabellen und Grafiken erleichtern den Überblick und lockern die Struktur. Ob dies in jedem Falle gelingt und den Text nicht überfrachtet, sei dahingestellt. In den meisten Fällen jedoch sind gerade die Überblicksdarstellungen zu Beginn der (Unter)Kapitel sowohl in grafischer Form als auch auf der Textebene sehr gelungen. Fettungen heben zudem im laufenden Text Kernbegriffe hervor. Ein zielgerichtetes Querlesen oder bedarfsorientiertes Nachschlagen ist somit erleichtert und wird unterstützt durch ein Glossar narratologischer Grundbegriffe (Kap. VI), das durch eine Anbindung an ein Sachregister hätte gut ergänzt werden können. Den Rahmen eines Kapitels schließt jeweils der Hinweis auf weiterführende Literatur. Kapitelspezifische Leitfragen für die Analyse, die teils durch Hervorhebungen und Arbeits- und Lektüreanregungen noch veranschaulicht werden, fassen abschließend gut zusammen, was vorher aufbereitet wurde.

Hinterlegte „Interpretationsskizze[n]“ fundieren den praktischen Bezug des Bandes und geben Studierenden Hilfestellung, die vorgestellten Theoreme in eine systematisch begründete Textanalyse einzubeziehen.

Sehr begrüßenswert ist die Praxis, die anschaulichen Grafiken des Bandes auf der Internetpräsenz des Verlags und den Seiten der Autoren in digitaler Form zugänglich zu machen. Gemäß der Creative Commons Public License ist es jedem Nutzer möglich, die aufbereiteten Inhalte für den Eigengebrauch (Studium und Lehre) zu nutzen.

Fazit

Sicherlich zeichnet sich diese Einführung nicht nur im Rahmen dieser Möglichkeiten des schnellen Zugriffs durch ihre Aktualität aus, sondern auch – und das vor allem – inhaltlich. Trotz einiger, bestimmt nicht immer vermeidbarer Redundanzen gewinnt man einen ausführlichen und vor allem sehr anschaulichen Überblick,5 der den Einstieg in eine methodengeleitete Erzähltextanalyse erleichtert und daher durchaus klare Vorzüge gegenüber anderen Einführungsdarstellungen aufweist.6

Letztlich bietet das vorliegende Lehrbuch Studierenden ausnehmend viele Hilfsmittel zur narratologischen Textanalyse, die über das hinaus weisen, was in anderen Einführungen als kanonisiert gilt. Fraglich bleibt jedoch, ob sich B.A.-Studierende, an die sich der Band schließlich und vor allem richtet, nicht in der Vielzahl der unterschiedlichen, sich teils widersprechenden Konzepte verlieren.

Literaturverzeichnis

Fludernik, Monika (2006): Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt.

Köppe, Tilmann / Stuehring, Jan (2011): „Against Pan-Narrator Theories“ In: Journal of Literary Semantics 40, S. 59-80.

Martínez, Matías / Scheffel, Michael (2012): Einführung in die Erzähltheorie. 9., aktualisierte und überarbeitete Auflage. München.

Schmid, Wolf (2008): Elemente der Narratologie. 2., verbesserte Auflage. Berlin/New York.

Wenzel, Peter (Hg.) (2004): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier.



Birte Fritsch, B.A.
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A – Romanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal

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1Vgl. S. 59 ff. Ein Vorgehen, das nicht bloß in Einführungsdarstellungen durchaus nicht selbstverständlich ist. Martínez/Scheffel (2012) beispielsweise behalten in ihrer auflagestarken Einführung die beschriebene Dichotomie bei und verweisen in ihren Ausführungen zum „‚Wie‘ der Darstellung“ unter dem Aspekt der Stimme (hier insbes. im Abschnitt (d) „Subjekt und Adressat des Erzählens (Wer erzählt Wem?)“ auf den Erzähler als Teil des Diskurses. Zur Kritik an einem solchen Vorgehen vgl. Köppe/Stuehring (2011), die strikt gegen die Notwendigkeit argumentieren, dass jede fiktionale Erzählung einen fiktionalen Erzähler aufweisen müsse.

2Schmids Ebenenkonzept von Exegesis und Diegesis wird dabei der Einführung der Erzählertypologie Genettes direkt vorangestellt. Schmids „alternative Benennung der ontologischen Bestimmung“ (S. 68) soll als äquivalente Bezeichnungsform von homo- und heterodiegetischem Erzähler aufgefasst werden (vgl. Schmid 2008, 86), wird aber im Folgenden nicht weiter angewandt. In der Beibehaltung des Begriffspaares homo- und heterodiegetisch wird zwar dessen überwiegendem Gebrauch in der Forschung Rechnung getragen, jedoch nicht unbedingt der Stringenz des Kapitels. Im Folgenden kommt es so häufiger zu Vermischungen der Terminologien (Schmid/Genette), wie beispielsweise in der Beschreibung des Textinterferenz-Modells (S. 129-132). Inwiefern dies gerade am Beginn ihrer Studien befindlichen Lesern deutlich wird, ist fraglich.

3Zur Perspektive vgl. Schmid (2008, 115-153).

4Bezüglich des Stilkapitels am ehesten vergleichbar, wenn auch nicht so übersichtlich und eingängig gestaltet ist Fludernik (2006, 83-88). Ähnlich verhält es sich mit den Abschnitten zur Metafiktion (Fludernik 2006, 75-77).

5Zu den Redundanzen: Ein eingangs erwähntes Zitat Kants bzw. dessen Auslegung durch Käte Friedemann wird im Folgenden häufig wiederholt (S. 61, S. 129, S. 168 u.a.). Dabei wird es orchestrierend mit den Aussagen Friedemanns mal als das ihrige, mal als ihre Erwähnung des seinen zitiert und behandelt. Letztlich ist dies Indiz eine Marginalie, die sicherlich auch den vielen Beiträgern geschuldet ist, jedoch in der jeweils unterschiedlichen Herangehensweise und Zitation unangenehm auffällt.

6Wie zum Beispiel Fludernik (2006), Martínez / Scheffel (2012), Wenzel (Hg.) (2004).