J. Alexander Bareis

Schaulaufen der amerikanischen Narratologie

Grundkonzepte der Erzähltheorie im direkten Vergleich

David Herman, James Phelan, Peter J. Rabinowitz, Brian Richardson, Robyn Warhol: Narrative Theory. Core Concepts and Critical Debate. Columbus: The Ohio State University Press 2012 (= Theory and Interpretation of Narrative, ohne Nummer). 282 + XIV S. EUR 31,99 (Taschenbuch). ISBN 978-0-8142-5184-3

Wenn es so etwas wie eine offene amerikanische Meisterschaft der Narratologie gäbe, dann wäre die Gemeinschaftsproduktion von David Herman, James Phelan, Peter Rabinowitz, Brian Richardson und Robyn Warhol das Schaulaufen der Medaillenträger – auch wenn Pflicht und Kür ebenfalls ihren Platz in dieser beeindruckenden Publikation haben.

Aufbau

Den fünf amerikanischen Narratologen ist mit diesem Band wohl etwas Einzigartiges gelungen: Zunächst werden im ersten Teil aktuelle Ansätze der amerikanischen Narratologie – in Eigenbeschreibung sind dies Narrative as Rhetoric (Phelan/Rabinowitz), A Feminist Approach to Narrative (Warhol), Exploring the Nexus of Narrative and Mind (Herman) und Antimimetic, Unnatural and Postmodern Narrative Theory (Richardson) – eingehend anhand von grundlegenden Fragen und Konzepten der Narratologie in sechs Kapiteln beschrieben und expliziert, und zwar jeweils anhand eines selbstgewählten literarischen Erzähltextes. Anschließend unterziehen die Autoren die jeweils konkurrierenden Ansätze ihrerseits einer kritischen Lektüre. Während also im ersten Teil die vier unterschiedlichen Ansätze jeweils zu einem bestimmten Thema sich selbst darstellen, besteht der zweite Teil des Buches aus Kommentaren zu den jeweils anderen Ansätzen. Resultat ist ein beeindruckendes narratologisches Kräftemessen, das ungewohnte Transparenz und Vergleichbarkeit ermöglicht.

Vier Ansätze im Überblick

Im ersten Kapitel stellen sich die vier theoretischen Ansätze zunächst einmal selbst vor: Den Auftakt machen hier wie in den folgenden Kapiteln zu den Grundbegriffen jeweils James Phelan und Peter Rabinowitz, die sich der rhetorischen Schule der Narratologie verpflichtet fühlen. Kennzeichnend für ihre Perspektive ist die Auffassung, beim Erzählen handele es sich um einen Kommunikationsvorgang: „Narrative is somebody telling somebody else, on some occasion, and for some purposes, that something happened to someone or something“ (S. 3, Hervorhebung im Original) lautet demzufolge die Kurzdefinition, die Phelan und Rabinowitz gleich zu Beginn ihres Beitrags vorschlagen. Der literarische Erzähltext, der durchgehend der Exemplifikation dient, ist Mark Twains The Adventures of Huckleberry Finn (1884).

Danach folgt Robyn Warhols feministischer Ansatz, der explizit nicht von einer narratology spricht, sondern bewusst das eigene Vorhaben als narrative theory bezeichnet, um eine Öffnung von klassisch-strukturalistischer Narratologie hin zu anderen Fragen außerhalb einer reinen ‚Grammatik des Erzählens‘ zu ermöglichen. Exemplifiziert wird ihr Ansatz von Jane Austens Roman Persuasion (1818).

David Herman vermeidet im Titel des eigenen Ansatzes bewusst das Adjektiv cognitive und vergleicht seine Vorgehensweise stattdessen mit Wittgensteins Konzept der Metaphilosophie, die sich in seinem Ansatz zur Erzähltheorie durch eine Konzentration auf das Konzept des worldmaking widerspiegelt. Literarisch exemplifiziert wird diese Herangehensweise durch Ian McEwans Roman On Chesil Beach (2007).

Brian Richardson schließt die Runde mit seiner Explikation des Ansatzes einer antimimetischen, unnatürlichen und postmodernen Erzähltheorie ab, am Beispiel von Salman Rushdies Midnight’s Children (1981).

Die Ansätze in ihrem Verhältnis zueinander

In den folgenden sechs Kapiteln wiederholt sich diese Reihenfolge. Jeder der vier erzähltheoretischen Ansätze widmet sich folgenden Grundkonzepten: 1) Erzähler/Autor/Erzählen; 2) Zeit/Plot/Progression; 3) Narrative Welten/Raum/‚Setting‘/Perspektive; 4) Figur; 5) Rezeption/Leser und schließlich 6) Ethik/Ästhetik. In direktem Bezug auf diese Themengebete werden die jeweils wichtigsten Grundannahmen der Ansätze formuliert und vorgeführt. Gleichzeitig bietet sich damit auch der sonst nur bedingt mögliche direkte Vergleich an. Deutlich wird hierbei, worin sich die alternativen Herangehensweisen an Erzähltexte besonders unterscheiden: Während beispielsweise der rhetorische Ansatz von Phelan und Rabinowitz sowohl von der feministischen als auch der ‚unnatürlichen‘ Ausrichtung einer Erzähltheorie in gewisser Weise als grundlegend, aber nicht ausreichend anerkannt wird (es fehle eben der jeweils propagierte Fokus), ist Hermans Ansatz an der Schnittstelle von kognitiver Verarbeitung und Erzählung grundsätzlich andersartig. Das wird in mehreren der Kapitel wiederholt deutlich. Herman stellt beispielsweise explizit das in der Narratologie weit verbreitete Drei-Ebenen-Modell der fiktionalen Kommunikation, unterteilt in drei verschiedene Instanzen und Ebenen anhand von (impliziten) Autoren und Erzählern und deren Gegenstücken, grundsätzlich in Frage und geht stattdessen von einer Weltmetaphorik im Sinne von Theoretikern wie Nelson Goodman und Richard Gerrig aus. Hermans Modell ist damit auch dasjenige, das de facto am wenigsten auf ein mimetisches Verständnis von fiktionalen Erzähltexten baut – auch weniger als Richardsons antimimetische Erzähltheorie, die ja, um überhaupt sinnvoll von einem Gegenteil der Mimesis sprechen zu können, diese zunächst einmal als Gegenpol dringend braucht.

Die übrigen Theorieansätze unterscheiden sich eher in ihren Nuancen. Warhol zeigt wiederholt gekonnt auf, wie allgegenwärtig die Fragen nach Gender nicht nur für die Texte Jane Austens sind, sondern durchaus auch für die weiteren Beispieltexte. Ansonsten schließt sich ihr Ansatz in vielerlei Hinsicht der rhetorischen Perspektive an. Der ‚unnatürliche‘ Ansatz Richardsons insistiert wiederholt auf der Andersartigkeit einer als anti- bzw. nichtmimetisch bestimmten Textsorte, bleibt narratologisch jedoch ebenso beim üblichen Handwerkszeug. Außer Herman gehen die anderen Ansätze grundsätzlich vom herkömmlichen Schema der narrativen Kommunikation aus, das in allen drei Fällen auch die Verwendung eines impliziten Autors vorsieht. Die englischsprachigen Absagen deutscher Narratologen an diese Instanz (vor allem durch Ansgar Nünning und Tom Kindt/Hans-Harald Müller) werden also nicht berücksichtigt. Grundsätzlich findet man, darin unterscheidet sich der Band kaum von anderen Beiträgen amerikanischer Provenienz, nur wenig Referenzen auf narratologische Arbeiten aus dem Ausland, und noch weniger auf Beiträge in anderen Sprachen als Englisch. Der einzige nicht-englischsprachige Titel im Literaturverzeichnis ist Fotis Jannidis’ Figur und Person: Beitrag zu einer historischen Naratologie.

Was die Auswahl der jeweiligen Beispieltexte angeht, halten sich die Überraschungen in Grenzen: Selbstverständlich wählen die jeweiligen Theoretiker einen literarischen Text, der sich besonders gut für die Demonstration der eigenen Position eignet. An Twains Huckleberry Finn lässt sich Phelans Konzept des unzuverlässigen Erzählens und der sinnfälligen Unterteilung in bindende respektive entfremdende Unzuverlässigkeit genauestens vorführen, ebenso wie die Wichtigkeit dessen, was von Phelan und Rabinowitz als progression in Bezug auf den Handlungsverlauf einer Erzählung bezeichnet wird. Das Gleiche gilt auch für die jeweils anderen Textbeispiele – Jane Austens letzter Roman eignet sich ausgezeichnet, um die Dringlichkeit einer feministischen Lektüre vorzuführen, und Ian McEwans Roman ist sicherlich besser geeignet für David Hermans Zwecke als manch anderer Roman – Romane des gleichen Autors eingeschlossen. Und zweifelsohne bietet Rushdies Midnight’s Children beste Möglichkeiten für eine Betonung ‚antimimetischer‘ Erzählweisen, die in vielen anderen Erzähltexten gar nicht oder nur sehr beschränkt nachweisbar sind. Darin unterscheidet sich die Konzeption des Bandes grundlegend von bekannten deutschsprachigen Beispielen, wie Klaus-Michael Bogdals Neue Literaturtheorien in der Praxis. Textanalysen von Kafkas ‚Vor dem Gesetz‘ oder Kafkas ‚Urteil‘ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus, in denen zwar ebenfalls unterschiedliche theoretische Ansätze von kompetenten Kennern vorgestellt werden, die allerdings alle dem jeweils gleichen Kafkatext zu Leibe rücken.

Folgerichtig wird dieser Umstand denn auch von einigen Vertretern der vier Ansätze in ihrer gegenseitigen Kritik im zweiten Teil des Buches thematisiert. So sind beispielsweise die Rhetoriker grundsätzlich mit der feministischen Ausrichtung einverstanden, geben aber zu bedenken, dass diese nicht für jeden Text gleich aktuell sein dürfte, was von Warhol gekonnt gekontert wird: „[G]ender is part of everything people in this culture do, speak, write or read“ (S. 202). Wie bereits an diesem Beispiel deutlich wird, werden die Gefechte durchgehend mit offenem Visier geführt, in sachlichem und kollegialem Ton, der allerdings bisweilen eine Spur ins Familiäre abrutscht (so schreiben beispielsweise Phelan/Rabinowitz an einer Stelle „Peter has hated ‘symbols’ since high school“, S. 84).

Gewichtung der Ansätze

Grundsätzlich stellt sich bei der Lektüre des Bandes die Frage, welche(r) der vier Ansätze tatsächlich den Anspruch erheben kann/können, eine tatsächliche Neuorientierung der Narratologie zu rechtfertigen. Welchen der vier Ansätze man letztlich selbst bevorzugt, ist sicherlich eine Frage der wissenschaftlichen Selbstverortung und vielleicht ein wenig Geschmacksfrage. Eine gut motivierte Neuorientierung bedarf, meine ich, handfester Gründe, die sich in der Andersartigkeit der theoretischen Grundlage manifestieren müssen oder im innovativen Beitrag zur etablierten Theoretisierung.

Aufgrund seiner Breite und den fundierten Beiträgen zur Verfeinerung der etablierten Terminologie wird der rhetorische Ansatz von Phelan und Rabinowitz wohl den größten Leserkreis ansprechen. Deutlich wird die spezielle Stellung der kognitiv orientierten Auseinandersetzung mit Erzählwelten, die mit ihrem grundsätzlichen Beharren auf eine Weltmetapher im Vergleich zu den eher etablierten Sichtweisen neue Perspektiven aufzeigt. Hier ist es wohl am ehesten gerechtfertigt, von einer tatsächlichen Neuorientierung der Narratologie zu sprechen. Der feministische Ansatz Warhols leistet ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung, da er die nicht zu unterlaufende Größe ‚Gender‘ als wesentlichen Bestandteil aller menschlicher Kommunikationsformen in Erinnerung ruft und damit notwendigerweise zum Teil jeder Theoriebildung werden lässt. Deutlich wird meines Erachtens auch, dass der Ansatz von Richardson diesen Anspruch der Relevanz für narratologische Theoriebildung nicht einlösen kann. Die sogenannte unnatürliche Narratologie kann weder eine historische Berechtigung aus einer vermeintlich typisch postmodernen Metaisierung ableiten, da anti- bzw. nichtmimetisches Erzählen schon immer Teil der westlichen Erzählkunst gewesen und keineswegs allein der Postmoderne zuzuschreiben ist, noch kann der Ansatz einen systematisch-theoretischen Beitrag leisten, der wesentlich über vorhandene Modelle hinausreicht. Grundlegend problematisch scheint vor allem der nicht zu vermeidende Rückschluss auf sogenannte mimetische Verstehensweisen, die aber gleichzeitig ständig als Hauptgegner der ‚Unnaturals‘ hochstilisiert werden: Um überhaupt sinnvoll von unnatürlichen oder anti- bzw. nichtmimetischen Erzählweisen sprechen zu können, bedarf es ja stets eines explizit mimetischen Verständnisses, gegen das zunächst einmal verstoßen werden kann. Erzähltheorien, die sich der Fiktionalität ihres Gegenstandes stets bewusst waren, haben diese Erzählweisen aber immer schon mit berücksichtigt. Die einzigen Textbeispiele, die Richardson liefert, die sich tatsächlich nicht mehr im Rahmen einer herkömmlichen Erzähltheorie fiktionaler Texte beschreiben lassen, sind ausgewählte Texte Becketts, die radikal jegliches narratives Verständnis unterbinden, wie zum Beispiel „Ping“ (vgl. S. 155). Gleichzeitig, und dies ist entscheidend, lässt sich meines Erachtens bei diesen Texten auch nicht mehr sinnvoll von Erzähltexten sprechen, weshalb der Geltungsbereich der Erzähltheorie damit überschritten ist. Richardsons vermeintlich neuartiger Ansatz in der Erzähltheorie entpuppt sich also bei näherem Hinschauen als eine Verlagerung des Interesses auf illusionsstörende und metafiktionale Erzählstrategien sowie epistemologische Besonderheiten, die so alt wie die Fiktion selbst sind und mit Mitteln beschrieben werden können, die in fiktionstheoretisch beschlagenen Erzähltheorien schon längst zum Standardrepertoire gehören.

Fazit

Doch auch wenn der ‚unnatürliche‘ Ansatz nicht an das Niveau der anderen Beiträge heranreicht, ist dem Autorenteam mit dem vorliegenden Band ein großer Wurf gelungen. Einzigartig sind die Transparenz und die Vergleichsmöglichkeiten, die dadurch entstehen und den Band damit zu einer wertvollen Hilfe vor allem für den Theorieunterricht machen. Aber auch als Orientierung für Leser, die sich intensiv mit den Nuancen der narratologischen Theoriebildung auseinandersetzen möchten, ist der Band unumgänglich. Ob die von den Verfassern vorgeschlagene Diskussion im dazugehörigen Blog (https://ohiostatepress.org/Narrative_Theory_Debates/) auch tatsächlich so lebhaft werden mag, wie man es sich wünschen würde, kann allein die Zukunft erweisen. Bislang stammen die einzigen zwei Beiträge (gesehen am 28.01.2013) von Brian Richardson, der eventuelle Missverständnisse in Anschluss an den zweiten Teil des Buches, vor allem in der kritischen Diskussion seiner eigenen Theorie, auszuräumen versucht.



Docent Dr.
J. Alexander Bareis
Språk- och litteraturcentrum
Lunds universitet
Box 201
221 00 Lund
Sweden
E-Mail: alexander.bareis@tyska.lu.se
URL: http://www.sol.lu.se/en/sol/staff/AlexanderBareis/

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