Simon Maria Hassemer, Julia Ilgner, Stefanie Roggenbuck und Lukas Werner

Gattungsspezifisches Erzählen:

Formen und Formwandel

2. Workshop der AG „Erzählforschung“ und der AG „Rezeption und Intertextualität“ im Rahmen der Kooperation des Zentrums für Graduiertenstudien (ZGS) der Bergischen Universität Wuppertal und der Graduiertenschule Kultur- und Sozialwissenschaften (GSKS) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 21. und 22. April 2012, Bergische Universität Wuppertal

Die sich in den letzten Jahren abzeichnende Konjunktur der Narratologie ging mit einer umfassenden Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs einher: Erzählen als kulturanthropologische Konstante wurde als transkulturelles, -historisches, -mediales und -generisches Phänomen (wieder)erkannt, und das „Narrative“ avancierte zu einem beliebten Schlagwort für sozial-, kultur- wie literaturwissenschaftliche Forschungsanliegen. Insbesondere im Rahmen der sogenannten new narratologies rückten transmediale und -generische Formen des Erzählens in den Fokus.1

Eine solche Erweiterung sieht sich mit zwei Problemen konfrontiert. Mit der Omnipräsenz des Ausdrucks „Erzählen“ geht erstens die Gefahr der Beliebigkeit einher: Im Überschwang potentiell interdisziplinärer und transphänomenaler Applizierbarkeit werden dabei schnell Begriffsdifferenzen zugunsten eines scheinbar einvernehmlichen Gebrauchs der Bezeichnung, der jedoch kommunikative Schieflagen erzeugt, über Bord geworfen.2 In der postulierten Ubiquität und Universalität verliert der Gegenstand an Kontur. Schwierig zu handhaben ist zweitens der Hiatus zwischen einem systematischen und einem historisch-kontextuellen Erkenntnisinteresse. Liegt nämlich der Schwerpunkt auf der systematischen Seite, wird man darum bemüht sein, eine Synthese der Erzähl-Phänomene in verschiedenen generischen und medialen Kontexten zu liefern; liegt das Hauptaugenmerk auf historischen Aspekten, wird es eher um die Differenz zwischen Erzählformen sowie deren Genese gehen.

Dieser Spannung zwischen synthetischer Erfassung und historisch-kontextueller Differenzierung galt der Workshop „Gattungsspezifisches Erzählen“, der am 21. und 22. April 2012 an der Bergischen Universität Wuppertal stattgefunden hat. Im Zentrum des Workshops stand die Frage danach, ob es Formen des Erzählens gibt, die gattungsspezifisch sind: Stehen Erzählweisen in einem korrelativen Verhältnis zu generischen Formen, und wie ändern sich Erzählweisen, wenn sich Gattungen wandeln? Gefragt wurde damit nach der Relation zwischen einem vermeintlich omnipräsenten Phänomen und spezifischen historischen Formen, oder als Paradoxon formuliert: nach der Historizität einer anthropologischen Konstante.

Insgesamt dreizehn Vorträge beleuchteten diese Fragen in fünf thematischen Sektionen. Nach dem Eröffnungsvortrag von Rüdiger Zymner entwickelte die erste Sektion eine historische Perspektive, die vom frühneuzeitlichen Roman bis zur Short Short Story des 20. Jahrhunderts reichte. Die zweite und dritte Sektion präsentierten Fallstudien zum Historischen Roman und zur Reiseliteratur als ‚Gattungen‘3. Die vierte Sektion fokussierte Formen des Erzählens in der Lyrik, während die fünfte Sektion dem Erzählen in Film und Computerspiel galt. Quer zu den Sektionen ergaben sich thematische Verbindungslinien zwischen den Vorträgen, die Raum-Zeit-Geschehens-Konfigurationen (Marc Wurich, Kai Spanke, Simon Maria Hassemer), das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität (Julia Ilgner, Ann-Christin Bolay, Christoph Bartsch), die Relation zwischen generischen Zuschreibungen und den historischen Befunden (Daniel Hostert, Marc Wurich, Michaela Klosinski, Christoph Bartsch), die Hybridität von generischen Ordnungen (Julia Ilgner, Maria Hinzmann) und die medial-generischen Bedingungen betrafen (Stefanie Roggenbuck/Lukas Werner, Frauke Bode, Simon Maria Hassemer).

Dem Eröffnungsvortrag von Rüdiger Zymner (Wuppertal) lag die These zugrunde, dass es ‚gattungsspezifisches Erzählen‘ nicht gebe, sondern lediglich generisch differenzierbare ‚Erzählungen‘. Zymner kombinierte in seiner Argumentation Dietrich Webers Erzähl-Begriff mit aktuellen Positionen der Gattungstheorie: Im Sinne Webers (1998) definierte er Erzählen als eine serielle Rede von zeitlich bestimmten Sachverhalten, die nicht Aktuellem gelte. Davon zu unterscheiden seien nicht-sprachliche Repräsentationen von ‚Stories‘. Bezüglich der gattungstheoretischen Fragen stellte Zymner heraus, dass es sich bei Gattungen um diskursive Konstrukte handele, die sozial geteilte Kategorisierungen abbilden. Somit ließen sich diachron keine trennscharfen Demarkationen und Klassen beschreiben – auch wenn Versuche unternommen würden, sogenannte ‚Prototypen‘ kulturell zu kanonisieren. Wenngleich generische Kategorisierungen auf unterschiedlich hohen Abstraktionsniveaus konstruiert würden, so bliebe doch das ‚Wie‘ des Erzählens immer gleich. Die gattungsspezifischen Unterschiede seien vielmehr stilistischer, nicht narrativer Natur. Dennoch gebe es ‚Erzählungen‘ in bestimmten Gattungen sowie ‚Erzählen‘ als transgenerisches Phänomen. Es sei besser, so Zymners Fazit im Hinblick auf Gattungsbestimmungen, von einem Interferenzmodell auszugehen, das auf gleitenden Übergängen respektive „sistierendem Gleiten“ und auf einzelnen generisch stabilen Zentren sowie einer graduellen Dispersion in Richtung peripherer Zonen basiere.

Sektion 1: Historische Perspektiven

Mit einem anglistischen Beitrag zur historischen Narratologie eröffnete Daniel Hostert (Wuppertal) die erste Sektion. Er hinterfragte die wohl populärste Zuschreibungskategorie der Literatur- und Gattungsgeschichte, die Kategorie Roman, im Kontext ihrer Konstitutiva und ihrerer Wertung. Ausgehend von Ian Watts weit verbreiteter These vom Aufkommen des modernen englischen Romans um 1700 (The Rise of the Novel [1957]) problematisierte Hostert die daraus resultierende Abwertung der Vormoderne. Am Beispiel von William Congreves einzigem Roman Incognita. Or, Love and Duty Reconcil’d (1692) versuchte Hostert, Differenzkriterien herauszuarbeiten, die es erlauben, zwischen Roman (‚novel‘) und älteren Prosagroßformen (‚romance‘) zu unterscheiden. Dabei erwies sich der Text in doppelter Hinsicht als glückliche Wahl, vereint er doch einen ambitionierten gattungspoetologischen Anspruch mit einer handlungsreichen Fabel um Liebe, Intrige und Verrat in renaissancistischer Kulisse und dient als Beleg einer allzu interessengeleiteten Rezeption: Während das Vorwort, in dem Congreve mit programmatischem Anspruch zwischen ‚romance‘ und ‚novel‘ als Prosaformen unterscheidet, vielfach rezipiert wurde, blieb der Roman weitgehend unberücksichtigt. Hostert gelang es nachzuzeichnen, dass für dieses prominente Beispiel einer verhinderten Rezeption etablierte Paradigmen der Gattungsforschung (Watt) ebenso eine Rolle spielen wie ein erzählerisch komplexer Text, der aufgrund seiner Hybridität und Gattungsinterferenzen die tradierte Normpoetik konterkariert.

Ähnlich wie Hostert sah sich auch Marc Wurich (Freiburg) in seinem Beitrag über Berlin-Romane zwischen 1880 und 1930 mit einer traditionsreichen Forschungsposition konfrontiert, für welche die Entstehung und Entwicklung des deutschsprachigen Großstadtromans untrennbar mit Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) verbunden ist. Auf der Suche nach Gattungsbelegen ante rem rekonstruierte Wurich mit Wilhelm Bölsches Die Mittagsgöttin (1891), John Henry McKays Die letzte Pflicht (1893), Max Kretzers Die Betrogene (1901), Georg Hermanns Die Nacht des Doktor Herzfeld (1912) sowie Döblins Wadzeks Kampf mit der Dampfmaschine (1918) eine mögliche, als vorläufig begriffene Sukzessionsfolge urbaner Erzählliteratur, die inhaltliche wie formale Eigenheiten des späteren Großstadtromans antizipiert. Unter Rückgriff auf Wolfgang Kayser sondierte Wurich Raum, Zeit und Geschehen als diejenigen Strukturelemente der epischen Welt, die auch für die Gattungszuschreibung wesentlich sind. Zwar lassen sich anhand dieser genretypische Elemente, wie das die Wahrnehmung von Zeit und Raum verändernde Flanieren oder die Kopplung der Erzählung an eine handlungswertende Reflektorfigur, ausmachen, jedoch wies Wurich letztlich ein stabiles Korpus gattungskonstitutiver Merkmale zugunsten variierender Kennzeichen zurück, die es von Text zu Text und unter Rekurs auf den jeweiligen historisch-stilistischen Kontext im Einzelnen zu bestimmen gilt.

Ebenfalls mit einer primär inhaltlich bestimmten Subgattung befasste sich Michaela Klosinski (Freiburg), die den Katholischen Roman um 1900 zwischen religiöser Tendenzliteratur und dem Avantgardismus des Jungwiener Kreises verortete. Im Gegensatz zu Wurich verfolgte Klosinski keine historische Rekonstruktion, sondern versuchte, die literaturtheoretischen Debatten im Umfeld des katholischen Literaturstreits auszuwerten und daraus Zuschreibungskriterien zu entwickeln. Sie verwies exemplarisch auf die Annahme eines moralisch-erzählerischen Duktus als genrebedingte Schreibweise. Indem sie jedoch die Dialektik von Moderne und Antimoderne, die sich in den Kontroversen maßgeblich artikuliert, als ein für die Gattung virulentes Paradigma setzte, näherte sie sich Wurichs These von der narrativen Überformung des Einzeltextes qua Zeit- und Autorenstil an, die sie abschließend anhand des Buchs der Liebe (1916) der Wiener Schriftstellerin Marie Eugenie Delle Grazie bestätigte.

Stefanie Roggenbuck und Lukas Werner (beide Wuppertal) stellten die gattungsspezifischen Herausforderungen des Erzählens in Klein- bis Kleinstformen (Short Short Stories und Kürzestgeschichten) ins Zentrum ihrer Ausführungen. Vornehmlich zwei Aspekte erwiesen sich dabei als virulent: erstens die Frage nach der Evokation einer erzählten Welt, d.h. nach den narrativen Bedingungen, auf quantitativ eng bemessenem Raum eine raum-zeitlich dimensionierte Welt zu generieren; und zweitens die Frage nach dem narrativen Kern. In systematisch-vergleichender Perspektive schloss sich daran die Frage an, ob es über den Einzeltext hinaus kontextuelle Kompositionsaspekte gebe, die ein narratives Potential aufbauen, das einen Bogen zwischen Kürzesttexten und dem Publikationskontext schlägt. Roggenbuck und Werner zeigten am Beispiel von N. Scott Momadays The Way to Rainy Mountain (1969) sowie anhand von Thomas Bernhards Band Ereignisse (1969) ausgewählte Strategien auf, mittels derer die Autoren auf die genrebedingte Erzählproblematik reagierten: Bei Momaday werden die Kürzesttexte durch eine zyklische Komposition, bei Bernhard durch eine ausgeprägte Leitmotivtechnik miteinander verbunden.

Sektion 2: Fallstudien I: Historischer Roman

Anhand von Leo Weismantels Lionardo da Vinci (1938) untersuchte Julia Ilgner (Freiburg) die ästhetisch-narrative Bedeutung historiografischer Vorlagen für die Genese des Historischen Romans und damit zwangsläufig auch die produktive Differenz zwischen historischem und fiktionalem Diskurs. Ilgner fragte nach der Gattungsspezifik geschichtlicher Dichtung, die maßgeblich von den rezipierten und produktiv integrierten Prätexten konditioniert wird. Da die Gattung den Dialog mit einer bestimmten historischen Zeit und ihren jeweiligen tradierten Zeugnissen suche, sei das eigentlich ‚Spezifische‘ immer auch Anleihe von außen, so dass ‚gattungsspezifisches Erzählen‘ im Sinne einer stabilen, genregenuinen Narration im Falle des Historischen Roman paradox anmute: Die Gattungsspezifik liege gerade in ihrer inhärenten Unspezifik.

Für seinen Lionardo rezipierte Weismantel die ihm zur Verfügung stehende Forschungsliteratur sowie die ab der Jahrhundertwende für ein breiteres Publikum edierten Quellen. Anhand von Textbeispielen arbeitete Ilgner drei Formen der narrativen Einbindung der Vorlagen heraus: In der moderaten Adaption werden Passagen, die in der Vorlage selbst schon von narrativer Qualität sind, nahezu unverändert übernommen. Narrative Expansion ist die literarische Ausgestaltung spärlicher historiografischer Informationen, wohingegen die narrative Kontraktion deren Gegenstück darstellt. Somit führte Ilgner exemplarisch mögliche Prozesse von Gattungstransformationen vor, die bei der Überführung historiografischer Prätexte in die literarische Fiktion entstehen können.

Christoph Bartsch (Wuppertal) ging es darum zu zeigen, dass die mögliche Welt des Historischen Romans eine engere ‚Zugänglichkeitsbeziehung‘ („accessibility relation“) zur ‚wirklichen Welt‘ habe als beispielsweise diejenige eines Fantasyromans. Nach Marie-Laure Ryan (1991) seien spezifische Zugänglichkeitsbeziehungen charakteristisch für literarische Gattungen. Das typologische Modell Ryans ordnet verschiedene Grade der Beziehungen zwischen der aktualen Welt des Lesers und der erzählten Welt der Geschichte in neun Kategorien. Bartsch wandte dieses Modell kritisch auf Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) an und konzentrierte sich primär auf Perturbationen in der Vermittlung der möglichen, realistischen und der erzählten historischen Welt. Er kam zu dem Schluss, dass auch vermeintlich irreale Ereignisse Bestandteil der erzählten Welt sein können, die er als „ontologische Enklaven“ bezeichnete: „kleine Subwelten, die ihre eigenen sowohl intratextuellen als auch transtextuellen Zugänglichkeitsbeziehungen unterhalten“ und in denen es keine eindeutigen Wahrheitswerte gebe, die uneingeschränkt auf die Gesamtwelt zutreffen.

Sektion 3: Fallstudien II: Reisebericht, Reiseliteratur

Maria Hinzmann (Wuppertal) rekonstruierte aus wissenschaftshistorischer Perspektive die ab den 1960er Jahren geführten Diskussionen um den Gebrauch und die Grenzen der Begriffe ‚Reisebericht‘, ‚Reiseliteratur‘ und ‚Reisebeschreibung‘. Sie hob insbesondere die Bedeutung von ‚Narrativität‘ und ‚Fiktionalität‘ als Differenzkriterien hervor, um beispielsweise den Unterschied zwischen ‚Reisebericht‘ und ‚Reisebeschreibung‘ fassbar zu machen. In den jüngeren Debatten um die Hybridität des Genres erkannte sie eine Verlagerung des Problems, mit der eine Verminderung der Relevanz der beiden Kriterien einhergehe. Das Interesse von Hinzmann lag in der Spannung zwischen historischen Befunden und deren systematischer Synthese. Sie arbeitete die Historizität des Phänomens ‚Reiseliteratur‘ sowie diejenige ihres Diskurses heraus.

Ann-Christin Bolay (Freiburg) verfolgte eine vornehmlich literaturhistorische Fragestellung. Ihr Ausgangspunkt war die Frage, inwiefern sich Fanny Lewalds Italienisches Bilderbuch (1847) vom gattungs- und motivprägenden Prätext Goethes (der Italienischen Reise, 1788/1789) löse und so eine eigene, nicht-epigonale Ästhetik hervorbringe. In der in Gattungstransgressionen gründenden Hybridität des Textes erkannte Bolay – wie auch Ilgner in ihrem Beitrag zum Historischen Roman – die „zentrale Ästhetisierungsstrategie“. In den Fokus rückte sie drei kategorial verschiedene Hybridisierungsfaktoren: erstens Fiktions-, zweitens Stil- und drittens Stoffaspekte. Lewald bediene sich, so die zentrale Einsicht, in der Beschreibung des Römischen Karnevals der Novellenstruktur, mit welcher die Fiktionalisierung des Berichts einhergehe. Durch Stoffanspielungen und Stil würden die Eindrücke auf Capri mythologisiert und die Beschreibung Venedigs in den Bild- und Sprachbereich des Märchens gerückt.

Sektion 4: Lyrisches Erzählen

Simon Mick (Freiburg) knüpfte in seiner Lektüre von Stefan Georges Trauer III (1906) und Karl Wolfskehls Nänie (1899) an die Studie von Jörg Schönert, Peter Hühn und Malte Stein zu Lyrik und Narratologie (2007) an. Vor dem Hintergrund der engen Verbindung zwischen Tod und Literatur fragte Mick nach den genuin narrativen Strategien, die im Genre des Epicediums zum Einsatz kommen, um der ihm attestierten Trostfunktion ästhetisch befriedigend nachzukommen. Damit beschritt er in der jüngeren Epicedium-Forschung, die vornehmlich rhetorische oder psychoanalytische Dimensionen in den Blick nimmt, einen neuen Weg.

Frauke Bode (Wuppertal) verfolgte ebenso einen innovativen Ansatz, indem sie Roland Barthes’ Konzept des ‚Biographems‘ auf Lyrikbände anwandte. Sie arbeitete am Beispiel des spanischen Dichters Jaime Gil de Biedma heraus, wie die in autobiographischer Diktion verfassten Gedichte der Anthologie Las personas del verbo (1975) in ihrer Fragmentarisierung ein ‚intermittentes Narrativ‘ hervorbringen. Dazu übertrug Bode den Begriff des ‚Biographems‘ von der Personenkonstellation Biograph/Biographierter auf die Differenz von erzählendem und erzähltem Ich, so dass das Biographem für sie zu einer punktuellen ‚Erinnerungseinheit‘ wurde. Sie zeigte, dass ein solches Narrativ entstehen kann, wenn die Äußerungsinstanz bei einer Figur liegt und eine angedeutete Chronologie sichtbar wird. Indem Bode damit die Gesamtorganisation des Bandes in den Blick nahm, knüpfte sie analog zu Roggenbuck und Werner an, die ebenso an der Einbettung von kleineren, aber durchaus autonomen Textsegmenten in einen größeren Zusammenhang interessiert waren. Kurze Texte scheinen die Frage nach einem größeren – sei es narrativen oder nicht-narrativen – Ganzen besonders zu befördern.

Sektion 5: Erzählen in neuen Medien

Kai Spanke (Berlin/Wuppertal) ging den narrativen Strategien des Slashers, einem Subgenre des Horrorfilms, nach, der durch eine gleichbleibende Handlungsabfolge schematisiert ist: Dargestellt werde stets die sukzessive Ermordung einer Gruppe von Teenagern durch einen Killer, der sich am Ende seiner Mordserie in einem Kampf mit dem einzig überlebenden final girl konfrontiert sehe, welches ihn letztlich töte oder doch zumindest außer Gefecht setze. Spankes These lautete, dass der Slasher trotz dieser determinierten Gesamtstruktur ein grundsätzliches Spannungspotenzial berge, das sich aus einem Wechselspiel ergebe: Die Opfer bemühen sich um Kontingenz, indem sie in ihrem Kampf gegen den Mörder darauf hoffen, auf irgendeine Weise ihr Überleben zu sichern, während der Killer als nahezu metaphysisch-providentielle Macht eben dieses in (fast) allen Fällen zu verhindern wisse. Anhand von John Carpenters Halloween (1978) und Wes Cravens A Nightmare on Elm Street (1984) wurde paradigmatisch gezeigt, dass gerade dieses Oszillieren zwischen Kontingenz und Providenz das Genre des Slashers charakterisiere.

Simon Maria Hassemer (Karlsruhe/Freiburg) stellte die Frage nach Formen der Narrativität in Videospielen. Er verortete sich innerhalb der Narratologie vs. Ludologie-Kontroverse, indem er eine grundsätzliche Narrativität von Videospielen verneinte, einzelnen Spielen aber durchaus einen gewissen Grad an narrativem Design zusprach. Narrativitätsgrade arbeitete er an einer Reihe von Beispielen heraus. Dem Spiel Tetris (1987) ordnete er einen Narrativitätswert von ‚null‘ zu, da es keine storygenerierenden Eigenschaften wie Figuren, Schauplatz oder Ereignisse enthalte. Im Fall von DethKarz (1999), einem Rennspiel, findet sich dagegen als Schauplatz eine Science-Fiction-Welt. Trotzdem wird es aufgrund des fehlenden Plots nicht als narrativ klassifiziert. Anhand des Ego-Shooters Doom (1993) und des Adventures Tomb Raider: Legend (2006) führte Hassemer vor, dass in einem Videospiel auch die für eine Geschichte notwendigen Konstituenten Diegese, Plot und Figuren nicht ausreichen, um dieses als narrativ zu bezeichnen: denn es seien nicht die Spiele selbst, so seine These, das die Geschichte erzählten, sondern die filmischen Cutscenes. Gattungsspezifisch sei im Fall aller Videospiele einzig das Gameplay, also die Art und Weise des Spielens, die dem Spieler – je nach Genre – in unterschiedlichem Maße Reflexion und Reflexe abverlange. Genuin narrative Passagen würden in Computerspielen allein durch die Inklusion von Cutscenes generiert.

Literaturverzeichnis

Aumüller, Matthias (2012) (Hg.): Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin / Boston.

Fricke, Harald (1981): Norm und Abweichung. München.

Hempfer, Klaus W. (1997): „Gattung“. In: Klaus Weimar et al. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung, Bd. I. Berlin, S. 651-655.

Hühn, Peter et al. (2007): Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin [et al.].

Kuhn, Markus (2011): Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin / New York.

Mahne, Nicole (2007): Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Tübingen / Basel.

Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (2002) (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier.

Ryan, Marie-Laure (1991): „Possible Worlds and Accessibility Relations. A Semantic Typology of Fiction“. In: Poetics Today 12 (H. 3), S. 553-576.

Sommer, Roy (2005): „Drama and Narrative“. In: David Herman et al. (Hg.), The Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London / New York, S. 119-124.

Weber, Dietrich (1998): Erzählliteratur. Schriftwerk, Kunstwerk, Erzählwerk. Göttingen.



Simon Maria Hassemer
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.
Historisches Seminar
Mittelalterliche Geschichte II
Platz der Universität KG IV
79098 Freiburg i. Br.
E-Mail: simon.hassemer@geschichte.uni-freiburg.de

Julia Ilgner
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.
Graduiertenschule Kultur- und Sozialwissenschaften
Starkenstr. 44
79085 Freiburg i. Br.
E-Mail: julia.ilgner@germanistik.uni-freiburg.de

Stefanie Roggenbuck, M. A.
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
Germanistik
Gaußstr. 20
42119 Wuppertal
E-Mail: roggenbu@uni-wuppertal.de

Lukas Werner, M. A.
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
Germanistik
Gaußstr. 20
42119 Wuppertal
E-Mail: l.werner@uni-wuppertal.de

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1Zum Beispiel: Kuhn (2011); Mahne (2007); Nünning/Nünning (2002); Sommer (2005).

2Zu den Erzählbegriffen in verschiedenen Disziplinen vgl. Aumüller (2012).

3‚Gattung‘ wird hier wie im Folgenden nicht nur als metatheoretischer Begriff in klassifikatorischer Funktion verstanden, sondern umfasst in Anlehnung an Klaus W. Hempfer (1997) auch historische Textgruppen sowie einzelne Realisierungen und damit jene „begrenzte[n] literarische[n] Institutionen“, die Harald Fricke (1981) als „Genres“ bezeichnet. Da in den Vorträgen und Diskussionen der Tagung die synonymische Verwendung von ,Gattung‘ und ,Genre‘ in der dargelegten Explikation dominierte, soll diese auch im vorliegenden Bericht beibehalten werden.