Anja Burghardt

Zwischen Literaturwissenschaft und Journalismus

Nora Bernings Beobachtungen zum journalistischen Erzählen

Nora Berning: Narrative Means to Journalistic Ends. A Narratological Analysis of Selected Journalistic Reportages. Wiesbaden: Springer / VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 158 S. EUR 34,95. ISBN 978-3-531-17910-0

Nora Berning, eine aktive Journalistin und derzeit PhD-Studentin an der Faculty of Information and Media Studies (FIMS) der Western University Canada, nimmt in ihrer Magisterarbeit, die sie im Rahmen des Erasmus Mundus Master Programms vorlegte, eine qualitative Inhaltsanalyse deutschsprachiger Reportagen vor.1 Als Rahmen für ihre Analysen dienen ihr einige Grundkategorien der Narratologie; ihr Korpus sind die 25 Reportagen, die für den namhaften deutschen Reportagepreis „Beste Reportage 2009“ nominiert waren (S. 60). Wie sie hervorhebt, handelt es sich dabei um Texte, die in verschiedenen Zeitschriften, Zeitungen und Beilagen (wie dem Zeit Magazin und dem Magazin der Süddeutschen Zeitung) erschienen sind, so dass ein breites inhaltliches und regionales Spektrum abgedeckt wird.

Gang durch das Buch

Das Buch ist in drei Teile geteilt, den „Theoretischen Rahmen“ (Teil I), die „Empirische Analyse“ (Teil II) und schließlich „Diskussion und Ausblick“ (Teil III). Ergänzt werden diese Teile, die jeweils in mehrere Unterkapitel gegliedert sind, neben einer Einleitung durch eine Bibliographie und einen Appendix, der graphische Darstellungen verschiedener Modelle, Übersichtstabellen zur empirischen Analyse und ein „Codebook“ enthält, das mehr oder minder ein Glossar vor allem der eingeführten narratologischen Termini darstellt. Im Folgenden werden die einzelnen Teile weitgehend entsprechend ihrer Reihenfolge im Buch vorgestellt.

In der Einleitung wird das Problemfeld journalistischer Reportagen umrissen mit dem Hinweis auf Turners (1996) Standpunkt, dass das Erzählen zweierlei sei: „a fundamental instrument of human thought and an essential ingredient of journalism“ (S. 15). Im Journalismus komme dem Erzählen insofern eine zentrale Bedeutung zu, als „narrative is important for making senses of the world around us. Moreover, it is a crucial component as regards identity formation. For journalist and readers alike, it serves as a window to the world“ (S. 16). Bislang, so betont die Autorin, sei das erzählerische Potential im Umgang mit journalistischen Texten im Allgemeinen, vor allem aber mit literarischen Reportagen wie sie im Zuge des „New Journalism“ in den USA entstanden und seither auch die Reportagen anderer Länder beeinflussen, zu wenig berücksichtigt worden. Daraus leitet die Autorin ihre zwei zentralen Forschungsfragen her (RQ = research question):

RQ 1: Which categories of narratological analysis are applicable to and employed predominantly in selected journalistic reportages?
RQ 2: Which categories are constitutive of and employed predominantly in different types of journalistic reportages? (S. 17)

RQ 2 bezieht sich auf die thematisch begründeten Kategorien einer Typologisierung von Reportagen nach Haller (2006), der zwischen „Ereignis-Reportage“ (bei Berning „Event“), „Milieu-Reportage“ („Milieu“), „Personen-Reportage“ („Portrait“) und „Selbsterfahrungs-Reportage“ („Participant Reportage“) unterscheidet (S. 50). Als eine der Grundfragen der Untersuchung wird zudem das „narrative Potential“ von Reportagetexten erwähnt (S. 54, 62). Im methodischen Rahmen wird als ein Ergebnis der Untersuchungen formuliert, dass so ein „reasonable account of the narrative codes currently used in German print media“ (S. 61) gegeben werden könne.

Kapitel 2 führt die Narratologie als Instrumentarium zur systematischen Analyse von Erzählungen („Narratives“) ein. Nach einer Diskussion des Gegenstandsbereichs der Narratologie, werden verschiedene Kommunikationsmodelle eingeführt: Jakobsons allgemein für sprachliche Kommunikation, die Kommunikationssituation im Fall fiktionaler Texte nach Wenzel (2004). Diese „Drei-Ebenen-Modelle“ („three-level model“, auch: „three tier approach“) werden dann mit einem „Zwei-Ebenen-Modell“, das nur zwischen „Story“ und „Discourse“ unterscheidet, verbunden. Die Zusammenführung der doch recht unterschiedlich gelagerten Modelle, also Jakobsons Kommunikationsmodell einerseits, der Differenzierung zwischen Story und Discourse andererseits, vermag Bernings Diskussion (S. 24-27) nicht recht zu erhellen.

Hauptteil des Kapitels ist die Einführung zentraler narratologischer Kategorien. Unter der Überschrift „Narrative Situation“ werden Stimme und Fokalisierung eingeführt, unter „Temporal Order“ die Kategorien Zeit, Dauer und Frequenz. Hier hält sie sich weitgehend an Genette (S. 65); die beiden weiteren Kategorien für die Reportagenanalyse sind der „narrative Raum“ (gestützt auf Bal 1997) und „Charakterisierung“, was weitgehend der Figurenanalyse dient (hier orientiert sie sich an Pfister 1988) (S. 65). In die Darstellung der Kategorien lässt Nora Berning verschiedene literaturtheoretische Diskussionen und Problematisierungen der eingeführten Kategorien einfließen, allerdings ohne diese zu einem Schluss zusammen zu führen. Zum Ende weist sie darauf hin, dass für die zukünftige Forschung ein disziplinenübergreifender Forschungsansatz notwendig sei und – hier folgt sie Jahn (1998) – dass die „Ordnungsbezüge“ der einzelnen narratologischen Kategorien weiterer Klärung bedürften (S. 36).

Das dritte Kapitel ist einer Definition der literarischen Reportage gewidmet mit einem Schwerpunkt auf den Reportagen des New Journalism. Dabei führt sie vor allem ihre Zwischenstellung zwischen Literatur und Journalismus an, also die „Hybridität“ dieser „Textsorte“ („a hybrid text type“, S. 43), als deren Charakteristikum sie anführt, dass sie über eine „narratorial instance“ (S. 49) verfügt. Für die (erzählende) Reportage kommt Berning so zu dem Schluss: „As a form that embraces the ,bardic‘ function of journalism, narrative reportages qualify as narrative webs of cultural meaning production, and thus fulfil one of journalism’s fundamental societal roles“ (S. 44). Aufgrund der Tatsache, dass in Reportagen die Realität „dreifach gefiltert“ sei (S. 46), entwirft Berning ein eigenes Kommunikationsmodell für die Reportage (Diskussion: S. 44-49, Abbildung 4, S. 142). Angelehnt an Wenzels Kommunikationsmodell für fiktionale Texte (2004), führt die Autorin unter Rückgriff auf Kostenzer (2009) einige Modifikationen ein, vor allem, dass Autor (Reporter) und Erzähler ebenso ineinander fallen wie (textinterner) Adressat und Leser (S. 48). Kurz geht sie auf die Differenz zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen ein (S. 44f.), abermals unter Nennung verschiedener TheroetikerInnen und ohne eine erkennbare Schlussfolgerung, wie sie mit den angesprochenen Differenzen umgeht.

Im Kapitel 4, einem Forschungsüberblick über Narrativität von Reportagen, stellt sie theoretische Untersuchungen zur Reportage und zwei empirische Studien über Reportagen vor, die eine zur deutschen, die andere zur amerikanischen Reportageliteratur. Neben der „transgenerischen“ Perspektive sei auch eine hinsichtlich der Nationalliteraturen komparative Analyse ein Forschungsdesiderat (vgl. S. 57).

Der empirische Teil beginnt – nach einer kurzen Einführung in einige wichtige Institutionen des deutschen Journalismusbetriebs wie das „Reporter Forum“ (gegründet 2007) – mit einer Begründung der gewählten Methode. Eine qualitative Inhaltsanalyse, für die Lamnek (1988) und Mayring (2002, 2003) ihre Hauptreferenzen darstellen, eigne sich von daher am besten für ihre Forschung, als es ihr nicht um eine statistische Auswertung, sondern um die Relevanz narratologischer Konzepte für die Analyse journalistischer Texte gehe (S. 62). Sie könne somit textimmanent arbeiten, so dass ihre Forschungsergebnisse in die narratologische Forschung integriert werden könnten. Schließlich erlaube ein qualitativer Ansatz, inhaltliche Gemeinsamkeiten der analysierten Texte herauszustellen (S. 63).

Zur Darstellung des Materials führt Berning vier Hypothesen (H) bezüglich der dominierenden narratologischen Parameter an, z.B. „[I assume that] H 1: a combination of heterodiegetic narration and zero focalization is employed predominantly“ (S. 67). Diese ergänzt sie durch vier Hypothesen bezüglich der Kombination aus thematischer Bestimmung der Reportage und gewählter Stimme, Ordnung, Raum- und Figurendarstellung, z.B. „[I assume that] H 5: a homodiegetic narrator is consitutive of Participant Reportages“ (S. 68). In der Diskussion der Beispiele, die durch verschiedene Überblickstafeln mit einer Auflistung der vorrangig verwendeten Fokalisierungen, Erzählertypen etc. ergänzt wird, bestätigt sie dann diese Hypothesen. Zudem werden Prototypen herauskristallisiert, denen sie „transitorische Typen“ gegenüberstellt. Ereignis-Reportagen beispielsweise zeichneten sich prototypisch durch eine chronologische Ordnung, den Raum in der Funktion eines Schauplatzes und eine figurale (gegenüber einer narratorialien) Figurencharakterisierung aus (vgl. S. 98).

Zentrales Ergebnis stellt als „idealtypische Form für die Darstellung von Kontinuität und Synthese“ ein Typenkreis („typological circle“) dar, der zugleich die „narrative Dimension in journalistischen Reportagen“ (S. 99) veranschaulicht (abgebildet im Anhang, S. 143). Im Schlusskapitel betont sie dessen explikatorisches und systematisierendes Potential, indem sie die untersuchten Reportagen in den Typenkreis einordnet (Abbildung 7, S. 145). Vorrangig diene der Typenkreis, der zudem die narrative Vielfalt der Reportagen zeige, der Visualisierung verschiedener Kombinationen narrativer Elemente (S. 110). In Verbindung mit der Erläuterung des Typenkreises argumentiert sie dafür, dass sich Hallers vier Typen von Reportagen auf drei reduzieren ließen, da letztlich die „Selbsterfahrungs-Reportage“ ebenso wie die anderen entlang der maßgeblichen Dichotomien, „chronological/achronological order, thematized/frame space, figural/narratorial characterization“ (S. 99), eingeteilt werden könnte.

To sum up, the typological circle serves as a holistic system with the help of which the journalistic landscape, more precisely, reportage story-telling with its tremendous variety of narrative forms can be charted and analysed. Within the circle, narrative techniques or strategies of story-telling and generic particularities of journalistic reportages encounter each other. (S. 101)

Wenn Berning im 7. Kapitel („Critical Reflections on the Results“) noch einmal die Ergebnisse ihrer empirischen Analyse auflistet, kommen weitere Faktoren wie die „narrative Tiefenstruktur“ (S. 107) ins Spiel, die Hallers Vierer-Typologie der Reportage bekräftigen sollen (ibid.), aber auch Stil oder Distanz in den Texten. Die Analyse zeige die Notwendigkeit, sowohl Journalismus als auch Literatur als zwei Bereiche mit fließenden und offenen Grenzen neu zu fassen (vgl. S. 108). Neben der Betonung des transdisziplinären und „transgenerischen“ Ansatzes hebt Berning hervor, dass Sprachgrenzen bzw. Grenzen der Nationalliteraturen nicht ausschlaggebend seien für die Erzählweisen der Reporter. Am Ende des Kapitels steht vor allem ein Ausblick auf die zentrale Rolle, die Narrativität im Journalismus und damit auch in der Berichterstattung allgemein und weltweit spielen kann.

Das Schlusskapitel, das abermals die Teile des Buchs synoptisch zusammenführt, geht deutlicher noch auf die journalistische, praktische Seite des Verfassens von Reportagen ein. Teil des Ausblicks ist eine Reihe von Forschungsfragen bezüglich der Geschichte der Reportage, bezüglich „intermedia narratology“ (insbesondere ein Vergleich von online und Printmedien), Vergleiche zwischen dem Journalismus verschiedener Länder und schließlich eine nähere Untersuchung des „reader-response criticism“ (S. 119). Das Buch schließt mit der Betonung der Nähe narrativer Reportagen zur Literatur.

Kritik und Urteil

Aus literaturwissenschaftlicher bzw. narratologischer Perspektive erschließt sich der Ertrag von Bernings Studie nicht in jeder Hinsicht. Trotz der ausformulierten Forschungs-Hypothesen bleibt das grundsätzliche Anliegen – abgesehen von einer Engführung von Journalismus und Literatur – eher unklar. Die Wiederholungen, die teilweise mit einer Verschiebung sei es von Begriffsdefinitionen, sei es von Forschungsfragen einhergehen, führen nicht zu keiner erkennbaren Erhellung der jeweils anderen Perspektive auf Texte, die Journalismus/Medienwissenschaft und Literatur(wissenschaft) auszeichnen mag. Gerade das sollte eine so sehr auf Transdisziplinarität ausgerichtete Studie, wie die Autorin sie für Ihre Untersuchung betont, aber anstreben. Die Vielzahl an theoretischen Ansatzpunkten, auf die eklektizistisch zurückgegriffen wird, macht den „theoretischen Rahmen“ wenig einsichtig.

Dass narrative Texte mit dem einschlägigen narratologischen Instrumentarium untersucht werden können, überrascht nicht. Zumindest in der Literaturwissenschaft wird die Reportage zudem gemeinhin als Gattung definiert, die zwischen Literatur und Journalismus steht. Das scheint in journalistischen Kreisen strittiger (Berning führt Blöbaum (2003) und Eder (2005) beispielhaft als Vertreter an, die Journalismus und Literatur insofern als getrennte Bereiche betrachteten, als ihnen unterschiedliche kommunikative Zwecke zukommen, vgl. S. 109). Sicherlich rückt mit dieser Stellung der Reportage zwischen Journalismus und Literatur immer wieder die Frage in den Blick, ob in diesen Texten ein fiktionales oder faktuales Erzählen vorliegt (vgl. z.B. Jakobi 2009). Wie man die Reportage einordnet, hängt von der Fiktionalitätsauffassung ab. Hier fehlt eine klare Positionierung von Berning. So klingt im Zusammenhang mit ihrem Kommunikationsmodell und der „dreifach gefilterten Realität“, die in Reportagen gegeben sein soll, das Problem des Tatsachenbezugs bloß an. Ihre explizite Aussage bleibt recht vage:

According to my own understanding, the reportages of the sample differ from literary fiction only with regards to the degree of fictionality, or rather the extent to which literary techniques and narrative strategies are utilized. (S. 104)

In ihren Ausführungen scheint sie Fiktionalität mit „literarischen Techniken und narrativen Strategien“ gleichzusetzen. Und auch ihre eigene Diskussion der Reportagen weist vorrangig darauf hin, wie ausgefeilt die Texte stilistisch sind und dass sie sich verschiedener Erzähltechniken bedienen. Allerdings bleibt bis zum Schluss fraglich, wie ein „narrativer Journalismus“ und „hard news“ gegeneinander abgegrenzt werden. Die Erzählinstanz als entscheidendes Kriterium für einen narrativen journalistischen Text scheint sie umgehend wieder zurückzunehmen (S. 49) – vielleicht aber auch nicht, denn eigentlich geht sie von dem Gegensatz „konventionelle Reportage“ vs. „narrative Reportage“ zu einer Gegenüberstellung verschiedener Topoi journalistischer Formen über mit der Bemerkung, die Struktur der Reportage hänge vom Inhalt ab. Der Schluss, Literatur und Journalismus seien zwei Felder, die nicht gegeneinander abgegrenzt werden könnten, scheint so zumindest voreilig.

Berning sieht offenbar das Forschungsdesiderat vor allem in narratologischen Untersuchungen von Reportagetexten. Was das Besondere an diesen Texten ist, expliziert sie aber allzu wenig. Genette (1993) führt sie zwar an, arbeitet aber letztlich nicht damit. Dabei wäre es naheliegend, sein Kriterium für faktuale Texte, nämlich die Identität von Autor und Erzähler, aufzugreifen anstatt ein schwer verständliches und eher fragwürdiges eigenes Kommunikationsmodell zu entwerfen. (Im Schlusskapitel betont sie dann allerdings die Identität von Autor und Erzähler/Reporter, was wiederum für das Kommunikationsmodell weitere Fragen aufwirft.) Auch andere Beobachtungen Genettes finden noch nicht einmal Erwähnung, obgleich er mittels seiner narratologischen Grundkategorien systematisch untersucht, ob sich – quasi an der „Textoberfläche“ – faktuales Erzählen von fiktionalem unterscheidet.

Bernings Diskussion der narratologischen Kategorien ist – sofern man nicht ohnehin mit ihr vertraut ist – so verkürzt, dass sie Außenstehenden nicht allzu viel sagen dürfte. Wenn sie am Ende doch einfach Genettes Kategorien übernimmt (bzw. Bals für die Raum- und Pfisters für die Figurenanalyse) bleibt die Frage nicht aus, wozu die schlagwortartig anmutende Auflistung theoretischer Texte bei der Einführung der Termini im 2. Kapitel dienen soll. Zudem sind einzelne Termini inhaltlich falsch eingeführt. So verwechselt die Autorin Achronie teilweise mit Anachronie (S. 30f., 156); und in Hinblick auf die Frequenz verwechselt sie das „ikonische Erzählen“ („N-mal erzählen, was n-mal passiert ist“), das Genette (1998, 82) als Variante des singulativen Erzählens anführt, mit dem repetitiven (S. 31). Umgekehrt werden journalistische Termini weitgehend als bekannt vorausgesetzt; auch hinsichtlich der empirischen Methode beschränkt sich die Autorin vor allem auf Literaturhinweise und gibt wenige Erläuterungen. Betrachtet man die Typologie der Reportage, so sind die Typenkreise alles andere als anschaulich.

Bezüglich der von Berning vorgeschlagenen Reklassifizierung – anstelle von Hallers vier, setzt sie drei Kategorien an – deckt sie m.E. vor allem eine Schwierigkeit zwischen Schreibanleitung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Reportagen auf. Haller schreibt offensichtlich aus einer Produktions-Perspektive. Dass unter diesem Blickwinkel die „Selbsterfahrungs-Reportage“, bei welcher der Reporter/die Reporterin selbst für einige Zeit eine Rolle lebt (Günter Wallraffs Reportagen sind im deutschsprachigen Raum wohl das bekannteste Beispiel), anderen Bedingungen unterliegt als die „Ereignis-“, „Milieu-“ und „Personen-Reportage“, steht außer Frage. Aus wissenschaftlicher bzw. Rezeptionsperspektive ist es demgegenüber naheliegend, dass sich dieser Reportage-Typus wiederum unter einen der drei anderen subsumieren lässt (sofern man die Produktionsbedingungen des Textes nicht als wesentliches Moment desselben begreift). Allerdings scheinen narratologische Parameter wie die Stimme nicht der glücklichste Maßstab für eine Klassifizierung zu sein, so dass auch an dieser Stelle das Potential narratologischer Analysen für den Umgang mit journalistischen Texten (und umgekehrt) nicht recht deutlich wird.

Der beste Teil sind sicherlich die Kommentare zu den Reportagen, aus denen Berning für die narratologischen Analysen anschauliche Passagen auswählt. Etwas fragwürdig bleibt allerdings die Anordnung entlang der Analysekategorien. Zum einen wird der Fokus auf den jeweiligen Parameter in der Darstellung der Reportage nicht strikt eingehalten. Zum andern arbeitet sie nur teilweise mit der eingeführten narratologischen Terminologie. Vor allem in Hinblick auf die Fokalisierung verwendet sie eine ganze Reihe von Formulierungen, bei denen manchmal nur zu erahnen ist, was gemeint ist, beispielsweise „This form of narration [sc. heterodiegetic narration] allows the reporter to present events from the outside-in so to speak.“ (S. 68) oder „the narrator comments from an outside perspective“ (S. 69). Weit häufiger als auf die verschiedenen Stimmen und Weisen der Fokalisierung nimmt sie hier auf die Differenzierung von „erlebendem“ und „erzählenden Ich“ Bezug. In den Reportageanalysen beschreibt sie wiederholt die Distanz in der Wiedergabe von Rede, also neben der Fokalisierung den zweiten Aspekt des Modus nach Genette. Diese hatte sie bei der Einführung der narratologischen Kategorien gar nicht erwähnt. Dabei sind manche Beobachtungen Bernings für die Narratologie durchaus interessant, wie beispielsweise ihr Hinweis, dass es im Grund keine Prolepsen gebe (S. 77). Auch in ihren Bemerkungen zu Carolin Emckes Reportage „Warum starben Ibrahim und Kassab?“ (Die Zeit, 12.2.09) überzeugt ihre textanalytische Begründung des Eindrucks eines Zeitverlustes (S. 76f.).

Literaturverzeichnis

Bal, Mieke (1997): Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto.

Blöbaum, Bernd (2003): „Literatur und Journalismus. Zur Struktur und zum Verhältnis von zwei Systemen“. In: Ders. /Neuhaus, Stefan (Hg.), Literatur und Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien. Wiesbaden, S. 23-52.

Eder, Gerhard (2005): „Literatur und Journalismus. ein komplexes Beziehungsgeflecht. Schnittmengen und Funktionsunterschiede in einer analysierenden Betrachtung“. In: Fachjournalismus 20, S. 22-25.

Genette, Gérard (1980): Narrative Discourse. An Essay in Method. New York et al. [engl. Übersetzung v. Jane E Lewin].

(1993): Fiction and Diction, Ithaca [engl. Übersetzung v. Catherine Porter].

— (1998): Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998 [dt. Übersetzung v. Andreas Knop].

Haller, Michael (1987): Die Reportage. 5. erw. Aufl. Konstanz 2006.

Jahn, Manfred (1998): „Narratologie. Methoden und Modelle der Erzähltheorie“. In: Ansgar Nünning (Hg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung. Trier, S. 29-50.

Jakobi, Carsten (2009): „Reportage“. In: Dieter Lamping (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart, S. 601-605.

Kostenzer, Caterina (2009): Die literarische Reportage; über eine hybride Form zwischen Journalismus und Literatur. Innsbruck.

Pfister, Manfred (1988): The Theory and Analysis of Drama. Cambridge [engl. Übersetzung v. John Halliday].

Turner, Mark (1996): The Literary Mind. Oxford.

Wenzel, Peter (2004): „Zu übergreifenden Modellen des Erzähltextes“. In: Ders. (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier, S. 5-22.



Dr. phil. Anja Burghardt, M. Phil., Mag. art.
Fachbereich Slawistik der Universität Salzburg
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1Aus dem Klappentext des Buches geht nur ihre wissenschaftliche Tätigkeit hervor. Dass sie selbst als Journalistin tätig ist, ergibt sich aus dem Buch. Vgl. daher die beiden folgenden Websites: http://www.reporter-forum.de/index.php?id=22&tx_rfartikel_pi1%5BshowUid%5D=372&cHash=c1d069cbc1cd996f4794a4f463955e01 (24.7.12); http://www.fims.uwo.ca/peopleDirectory/students/phd_ms_students/ms_phd_profile.htm?PeopleId=122429 (24.7.12).