Inga Römer

„Wirklichkeitserzählungen“ als Forschungsfeld der Narratologie

Matías Martínez / Christian Klein (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart: Metzler 2009. 277 S. EUR 34,95. ISBN 978-3-476-02250-9

Die beiden Herausgeber des Sammelbandes Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Christian Klein und Matías Martínez, gehen davon aus, dass es einen eigenen Typ von Erzählungen gibt, der in der Erzählforschung bisher nicht hinreichend abgegrenzt und untersucht wurde. Es handelt sich, mit einer Begriffsschöpfung der beiden Herausgeber bezeichnet, um „Wirklichkeitserzählungen“ (S. 6). Eine Wirklichkeitserzählung sei „die sprachliche Darstellung eines Geschehens, also einer zeitlich organisierten Abfolge von Ereignissen“, die mit dem „refentielle[n] Anspruch“ auftritt, sich „auf reale Begebenheiten, auf Wirklichkeit“ zu beziehen (S. 6).

In der vorliegenden Rezension wollen wir in einem ersten Schritt anhand der Einleitung der Herausgeber den Begriff der „Wirklichkeitserzählungen“ näher beleuchten sowie das daran geknüpfte Forschungsprogramm skizzieren. Ein zweiter Abschnitt gibt einen Überblick über die thematischen Bereiche, die im Sammelband behandelt werden, und wendet sich exemplarisch einigen Aufsätzen näher zu. Ein abschließender Abschnitt nimmt Stellung zu der Frage nach der Leistung und den Grenzen des Bandes.

1. Die Erforschung von „Wirklichkeitserzählungen“

Die in der obigen Weise definierten Wirklichkeitserzählungen sind den Herausgebern zufolge bislang deshalb nicht hinreichend von anderen Typen von Erzählungen abgegrenzt worden, weil in weiten Bereichen der Forschung der Gedanke eines allumfassenden „Panfiktionalismus“ (S. 1) vorherrsche: Da auch jene Erzählungen, die sich vermeintlich auf Wirklichkeit beziehen, diese wesentlich konstruierten, könne man, so die These der Panfiktionalisten, nicht mit Recht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Klein und Martínez wenden sich in differenzierender Weise gegen diese unter anderem von Aleida Assmann und Hayden White vertretene Position (vgl. S. 7): Auch Wirklichkeitserzählungen seien zwar durchaus konstruktiv, nichtsdestotrotz sei das ihnen Eigentümliche der von ihnen erhobene Geltungsanspruch, reale Sachverhalte darzustellen – Letzteres aber übersehe der radikal-konstruktivistische Panfiktionalismus.

Idealtypisch unterscheiden Klein und Martínez drei Typen von Wirklichkeitserzählungen, die erkennen lassen, wie weit sie das Feld der ‚Wirklichkeit‘ fassen. Zu ihrem Untersuchungsgebiet zählen sie nicht nur deskriptive, sondern auch normative und voraussagende Wirklichkeitserzählungen (vgl. S. 6). Um dieses weite Feld zu typologisieren, greifen die Herausgeber auf das begriffliche Instrumentarium der Systemtheorie von Niklas Luhmann sowie der Feldtheorie von Pierre Bourdieu zurück, das sie für die narratologische Untersuchung der Wirklichkeitserzählungen fruchtbar zu machen suchen. Von Luhmann übernehmen sie die Idee einer funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme, die anhand von verschiedenen Leitdifferenzen (wie u. a. wahr/unwahr, gut/böse, legal/illegal) unterschieden werden könnten, und legen sie ihrer eigenen „Typologie faktualen Erzählens“ (S. 11) zugrunde. Mithilfe dieser Luhmann’schen Leitdifferenzen könne der Bereich der Wirklichkeitserzählungen systematisch geordnet werden, weil diese Leitdifferenzen „das Erzählen in den verschiedenen Feldern sozialer Kommunikation jeweils bestimmen“ (S. 12). Da Luhmanns zweiwertige Codierung der Teilsysteme jedoch all das ausschließe, „was nicht innerhalb des durch die Leitdifferenz markierten Raumes Platz hat“ (S. 12), verknüpfen die Herausgeber in ihrem eigenen Ansatz die Luhmann’sche Systemtheorie mit Bourdieus Feldtheorie: Letztere könne aufgrund ihrer größeren Offenheit auch die Beziehungen zwischen den einzelnen sozialen Feldern berücksichtigen.

2. Übersicht über die Beiträge und exemplarische Betrachtung einiger Einzelstudien

Alle im Band enthaltenen Aufsätze fügen sich in einen von den Herausgebern vorgegebenen Rahmen ein. Einerseits arbeiten sie mit dem etablierten, insbesondere von Genette entwickelten erzähltheoretischen Begriffsinstrumentarium, andererseits folgen sie einem einheitlichen Aufbau: 1) Kurzbestimmung des Wirklichkeitsfeldes und Nennung der für dieses dominanten Leitdifferenz, 2) systematischer Überblick über die für das Feld spezifischen Formen und Funktionen des Erzählens, 3) exemplarische Einzelfalldarstellungen, 4) forschungsgeschichtlicher Überblick und Aufweis der Desiderate, 5) kommentierte Auswahlbibliographie.

Die Themenfelder, die im Sammelband behandelt werden, sind schlagwortartig aufgeführt: Rechtswissenschaft (A. v. Arnauld), Medizin und Psychotherapie (B. Boothe), Naturwissenschaft (Ch. Brandt), Geschichte (S. Jaeger), Ökonomie (B. Kleeberg), Moral (Ch. Klein), Journalismus (M. Martínez), Religion (A. Mauz), Politik (G. S. Schaal), Kollektiverzählungen (R. Sommer) und Internet (D. Tophinke).

Wir wollen aus den Artikeln über Rechtswissenschaft, Naturwissenschaft und Ökonomie selektiv einige Gesichtspunkte herausheben, weil in diesen Bereichen die Relevanz der Narrativität am wenigsten offensichtlich scheint.

Von Arnauld weist darauf hin, dass der Umfang der Präsenz narrativer Elemente in einer Urteilssprechung Rückschlüsse auf das Rechtsverständnis des jeweiligen Rechtssystems zulässt: Während der Richter in Frankreich „nur das Sprachrohr des Gesetzes“ sei und seine Urteile daher „aus einer scheinbar logischen Kette cartesianischer Deduktionen“ bestünden, seien es im angelsächsischen Rechtskreis die „Richter als Personen, die ihre individuellen Rechtsansichten präsentieren“ (S. 16) und dabei viel stärker auf Narratives zurückgreifen. Im Aufsatz werden außerdem die Bedeutung des Narrativen für die Darlegung der eigenen „Sicht der Dinge“ (S. 18) vor Gericht, der Zusammenhang von „(Verfassungs)Recht und fundierenden Narrationen“ (S. 20) einer Nation sowie die Bedeutung von phantasierten Fallerzählungen für die juristische Ausbildung hervorgehoben.

Brandt weist auf die narrativen Muster des naturwissenschaftlichen Experiments (vgl. S. 81) sowie auf die allgemeine kognitive und epistemische Funktion von Narrativen im Bereich der Naturwissenschaften hin, deren Praktiken nicht nur selbst narrative Strukturen aufwiesen, sondern die auch im Ganzen in soziohistorische Diskurse mit narrativen Strukturen eingebunden seien (vgl. S. 83). Anhand der Analyse eines wissenschaftlichen Fachartikels zeigt sie, dass dieser „sich als eine Erzählung über ein zurückliegendes, zeitlich und örtlich lokalisiertes Geschehen begreifen [lässt], deren formale Struktur zugleich dazu beiträgt, genau diesen narrativen Charakter zurückzunehmen“ (S. 95).

Kleeberg vertritt die These, dass ökonomisches Erzählen „Erzählen von einer besseren Zukunft“ sei, in der „Handeln […] optimiert, Fehler vermieden, Nutzen maximiert, Gewinn gesteigert, Gleichgewicht wiederhergestellt, Konjunktur angekurbelt“ wird, so dass man ökonomische Erzählungen auch als „Wirklichkeitszurichtungsaufforderungen“ (S. 139) verstehen könne. Erzählungen seien konstitutiv für abstrakte, mathematisierte ökonomische Modelle, um letzteren ihre Anschlussfähigkeit an die Wirklichkeit zu sichern (vgl. S. 141).

3. Leistung und Grenzen des Bandes

Der Sammelband bietet eine ausgezeichnete Einführung in das Thema Wirklichkeitserzählungen, wobei der systemtheoretische Zugriff eine Entscheidung der Herausgeber darstellt, die dem Band seine spezifische Grundkonzeption verleiht. Das besondere Verdienst des Bandes liegt zum einen darin, den eigenständigen Bereich der Wirklichkeitserzählungen innerhalb der Erzählforschung zurückerobert zu haben, und zum anderen liegt er in seiner zahlreiche Disziplinen umfassenden Interdisziplinarität. Es wird die Relevanz des Erzählens in Bereichen deutlich, die bislang alles andere als im Zentrum der Erzählforschung standen.

Dass die einzelnen Beiträge dabei in die Formen und Funktionen des Erzählens in ihrem jeweiligen Feld nur einführen können, versteht sich von selbst. Die in jedem Beitrag enthaltenen Hinweise auf die Forschungslage und auf noch bestehende Desiderate sowie die jedem Beitrag angefügte kommentierte Auswahlbibliographie geben jedoch Anhaltspunkte zur Vertiefung und weisen bereits über die gegebene Einführung hinaus.

Eine Grenze des Bandes, die die Herausgeber selbst markieren, besteht in dem ausschließlich narratologischen Zugriff auf das Thema. Der Band konzentriert sich auf die Herausarbeitung der Formen und Funktionen des nicht-literarischen Erzählens und stellt dabei die erkenntnistheoretische Frage, mit welcher ‚Realität‘ es die sogenannten Wirklichkeitserzählungen zu tun haben, zurück (vgl. S. 2, Fußnote 3). Folgerichtig findet sich in dem Band auch kein Beitrag aus dem Fach Philosophie, der diese Frage eigens erörtern würde.

Der Sammelband ist sowohl für Studierende als auch für Erzählforscher hervorragend geeignet: Die einen führt er anhand des spezifischen Feldes der Wirklichkeitserzählungen in die Erzählforschung ein; den anderen liefert er einerseits überzeugende Argumente dafür, das Feld der Wirklichkeitserzählungen als einen eigenen Bereich der Erzählforschung anzuerkennen, und erschließt ihnen andererseits Felder der Narrativität, die bislang vernachlässigt wurden.



Dr. Inga Römer
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
Philosophie
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail: roemer@uni-wuppertal.de

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