Maria Leopold

Forschungsüberblick und heuristisches Modell

Sven Strasens Synthese literatur-, kognitions- und kulturwissenschaftlicher Rezeptionstheorien

Sven Strasen: Rezeptionstheorien: Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze und kulturelle Modelle. Trier: WVT 2008 (= WVT Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium Bd. 10). 360 S. EUR 30,-. ISBN 978-3-86821-050-7

Die Zielsetzung des Buchs

Mit seiner Habilitationsschrift Rezeptionstheorien möchte Sven Strasen eine Lücke zwischen der literaturwissenschaftlichen und neueren Strömungen in der sonstigen Rezeptionstheorie schließen. Ein Problem der zahlreichen Publikationen neueren Datums sei ihre schwere Systematisierbarkeit, da sie Forschungsansätze aus unterschiedlichen Disziplinen heranzögen, ein Gesamtmodell derartiger Ansätze aber noch ausstehe. Eine literaturwissenschaftliche Theorie der Rezeption, so Strasen, muss am – durchaus relevanten – Kenntnisstand der Literaturwissenschaft ansetzen und die Forschungsergebnisse anderer Disziplinen an den Stellen integrieren, an denen Fragen bisher unbeantwortet geblieben sind. Ziel seiner Arbeit ist die Ausarbeitung eines „heuristische[n] Modell[s] literarischer Rezeptionshandlungen“ (S. 3), das an klassische Ansätze der Rezeptionstheorie anschließt und gleichzeitig die neuesten Forschungsergebnisse aus Kognitionspsychologie, kognitiver Linguistik, Diskursanalyse und Kulturanthropologie berücksichtigt.

Der Band ist in der Reihe der WVT Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium erschienen und hat damit den Anspruch als Nachschlagewerk zu dienen, das einen umfassenden Überblick über unterschiedliche rezeptionsorientierte Ansätze und deren Bedeutung für die Literaturwissenschaft bietet. Darüber hinaus legt Strasen mit seiner Studie auch einen eigenen theoretischen Beitrag in Form eines Modells literarischer Rezeption vor, das als gemeinsamer Bezugspunkt für literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung dienen soll.

Der Aufbau

Der Forschungsüberblick und die Ausarbeitung des eigenen Theorieentwurfs sind in Strasens Studie eng miteinander verknüpft. Auf jede Darstellung eines theoretischen Ansatzes folgt die Herausstellung seiner jeweiligen Stärken und Schwächen. Anschließend wird stets ein weiterer Ansatz vorgestellt, der die Schwächen der vorherigen Ansätze im Gesamtmodell kompensieren könnte. Strasens eigener Theoriebeitrag besteht in der Synthese der überzeugenden Elemente der jeweiligen Ansätze zu einem Gesamtmodell. Dieses schrittweise analytische Vorgehen stellt eine Stärke des Bandes dar, da er sich so gut als Nachschlagewerk für die einzelnen Ansätze eignet. Auf der anderen Seite gestaltet sich die Lektüre für den Leser, der in erster Linie an Strasens eigenem Theorieentwurf interessiert ist, unter diesen Umständen etwas mühselig, da sich zahlreiche Aspekte der besprochenen Ansätze als nicht relevant für das Gesamtmodell erweisen.

Die Basis für Strasens Darstellung der theoretischen Entwürfe bildet ein von van Dijk und Kintsch vorgeschlagenes und von Meutsch graphisch dargestelltes Modell des Textverstehens (Kapitel 2). Dieses Modell identifiziert verschiedene Faktoren, die für den Verstehensprozess zentral sind: Die Oberflächenstruktur eines Textes, die daraus konstruierte Textbasis, das Situationsmodell, das den jeweils fehlenden, aber für das Verstehen relevanten Teil des Weltwissens ergänzt, den Wissensbestand des Rezipienten, aus dem die fehlenden Informationen zur Ergänzung des Situationsmodells abgerufen werden, und das Kontrollsystem, das den gesamten Verstehensprozess reguliert. Das Modell dient Strasen zum einen als terminologische Basis, in die die Begriffe der im Anschluss daran analysierten Ansätze übersetzt werden können, und zum anderen zur Systematisierung der Probleme dieser Ansätze.

Im Anschluss an die Erläuterung des Basismodells stellt Strasen in Kapitel 3 klassische Ansätze der literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorie vor. Die Darstellung dieser Theorien ist nach denjenigen Faktoren systematisiert, die methodisch spezifisch als jeweils ausschlaggebend für die Bedeutungskonstitution proklamiert werden. So stellt für Bleich und Holland die Psyche des Lesers den dominanten Faktor in der Literaturrezeption dar, für Iser der Text, und für Fish die den Leser prägenden soziokulturellen Einflüsse. Strasens Hauptkritikpunkt an jeder dieser Theorien ist dann auch die Tatsache, dass sie durch die Fokussierung auf jeweils nur einen Einflussfaktor den Rezeptionsprozess nicht als dynamische Interaktion verschiedener Einflussgrößen konzipieren können. Am Ende des Kapitels stellt Strasen einen Katalog von offenen Fragen bezüglich der Rezeption literarischer Texte auf und strukturiert diesen anhand der am Basismodells erarbeiteten Kriterien. So fragt er z.B. nach den genauen Abläufen bei der Kontextualisierung literarischer Kommunikation als der Interaktion zwischen Textbasis, Situationsmodell und Wissensbestand, nach der Art der Strukturierung des Wissensbestandes oder danach, ob es ein besonderes Kontrollsystem für die literarische Kommunikation gibt. Zur Beantwortung dieser Fragen, die die literaturwissenschaftlichen Theorien schuldig geblieben seien, zieht Strasen Forschungsergebnisse aus anderen Disziplinen heran.

Vor der Hintergrundannahme, dass literarische Kommunikation nicht kategorial verschieden von nicht-literarischer Kommunikation ist, da etwa auch in letzterer die Kontextualisierung von Äußerungen als problematisch eingeschätzt wird, stellt Strasen in Kapitel 4 zunächst pragmatische Theorien der Kommunikation vor. Er skizziert eine an Bachtin anschließende Traditionslinie, die Ansätze von Searle (Sprechakttheorie) und Grice (Kooperationsprinzip), sowie Sperber und Wilsons Relevanztheorie. Obwohl das Defizit dieser Theorien, genau wie im Fall der literaturwissenschaftlichen Ansätze, darin besteht, dass sie sich auf jeweils nur einen Faktor des Kommunikationsprozesses konzentrieren, erscheinen Strasen die Annahmen der Relevanztheorie für die Ausarbeitung einer Theorie literarischer Rezeption besonders geeignet, da sie die Existenz eines spezifisch literarischen Kontrollsystems nahelegt, das einen hohen Prozessaufwand in Kauf nimmt, weil dieser zugleich hohe kognitive Effekte erwarten lässt.1 Zudem sei die Relevanztheorie eine dynamische Kontextualisierungstheorie, die keine ihrer beteiligten Strukturen als exklusiv bedeutungskonstituierend festlege. Zur Begründung ähnlicher Rezeptionsresultate bei verschiedenen Rezipienten gehe die Relevanztheorie davon aus, dass die Wissensbestände der individuellen Rezipienten ähnlich strukturiert seien und ähnliche Inhalte bereitstellen müssten, damit eine gemeinsame „kognitive Umwelt“ (S. 160) als Kontext angenommen werden könne.

Um erstere Annahme zu überprüfen, beschreibt Strasen in Kapitel 5 schematheoretische Ansätze, die Hypothesen zur Struktur des Wissensbestandes aufstellen. Zunächst skizziert er die Grundlagen der symbolistischen Schematheorie. Er erläutert Schank und Abelsons Hierarchie von Schemata, Rumelharts Untersuchungen zur Schemaaktivierung und Schemaveränderung und schließlich Schanks Studie über die Verbindung und Koordination von Schemata. Diese Forschungsergebnisse ergänzt er durch konnektionistische Ansätze, die bei der Verarbeitung von Informationen im Gehirn durch Neuronen und Synapsen ansetzen und die Annahme einer schematischen Strukturierung von Wissensbeständen durch empirische Untersuchungen weiter stützen. Darüber hinaus suggerierten die konnektionistischen Untersuchungen, dass Schemata „sich spontan herausbilden, weil die in ihnen repräsentierten Elemente häufig in Verbindung miteinander auftreten oder ähnliche Eigenschaften haben“ (S. 240). Das gemeinsame Auftreten von Zusammenhängen in der Umwelt eines Individuums würde also zur Ausprägung der individuellen Schemata führen, und diese Schemata wären bei den Mitgliedern derselben kulturellen Gemeinschaft vermutlich recht ähnlich. Kognitive Schemata könnten dementsprechend durch eine Untersuchung der sie mit prägenden kulturellen Artefakte (wie z.B. Literatur) analytisch zugänglich werden. Die Ergebnisse der Schematheorie liefern laut Strasen außerdem eine mögliche Antwort auf die Frage, welche kommunikativen Ziele denn besonders gut mit der kognitiv sehr anspruchsvollen literarischen Kommunikation erreicht werden sollen. Strasen hält die These Cooks, jedenfalls in der von Semino abgeschwächten Form, für plausibel, dass das Ziel der Rezeption von Literatur der kognitive Effekt der Schemaüberprüfung und eventuell -veränderung sei. Literaturrezeption scheine für eine derartige Schemaprüfung besonders geeignet zu sein, da sie keine pragmatischen Ziele habe und damit ein ungefährliches Feld für einen solchen Prozess darstelle.

Die Hypothese konnektionistischer Ansätze, dass die Bildung von Schemata soziokulturellen Einflüssen unterliegt, wirft Fragen nach der genauen Natur dieser Einflüsse auf. Deshalb führt Strasen in Kapitel 6 das aus der Kulturanthropologie stammende Konzept des ‚kulturellen Modells‘ als Schlüsselbegriff für eine literarische Rezeptionstheorie ein. Die individuellen kognitiven Modelle könnten demnach nicht als gemeinsamer Kontext von Kommunikation funktionieren. Geteilte kulturelle Modelle hingegen könnten bei Kommunikationspartnern als „wechselseitig manifest“ (S. 209) angenommen werden. Im Fall von Massenkommunikation wie z.B. der Literatur müssten zunächst die zugrundeliegenden kulturellen Modelle des kommunikativen Senders rekonstruiert werden. Zur Rekonstruktion solcher Modelle schildert Strasen Verfahren der Diskursanalyse (Link), der kognitiven Anthropologie (Strauss und Quinn) und der kognitiven Linguistik (Lakoff und Johnson). Diese Ansätze erklären das kulturelle Modell als vermittelnde Größe zwischen den Spezialdiskursen einer Kultur, dessen Elemente schematisch strukturiert sind und vermutlich zu einem wesentlichen Teil aus konzeptuellen Metaphern, d.h. aus kognitiven Universalien bestehen. Literatur habe einen besonderen Status bezüglich kultureller Modelle, da sie diese auf der einen Seite zwar als Teil der materialen Dimension von Kultur mit konstituiere, auf der anderen Seite aber auch kritisch in Frage stelle – der Mechanismus der Schemaüberprüfung bezieht sich somit, wie Strasen präzisiert, eher selten auf individuelle kognitive Modelle, sondern hauptsächlich auf geteilte kulturelle Modelle.

Fazit

Sven Strasens Handbuch stellt einen gelungenen problemorientierten Überblick über den Forschungsstand verschiedener Disziplinen, die sich mit für die Rezeption literarischer Texte relevanten Aspekten befassen, dar. Sein Modell wird dem Anspruch gerecht, eine „Übersichtskarte“ (S. 11) für das Feld der Rezeptionstheorien darzustellen, die er in seiner Einleitung als Desiderat für die Erarbeitung einer literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorie herausstellt. Seine Syntheseleistung ist ein besonders wertvoller interdisziplinärer Beitrag in diesem methodisch sehr heterogenen Forschungsfeld. Als Wegweiser durch die verschiedenen Terminologien der vielen Theorien erlaubt es Strasens Buch, diese in Beziehung zueinander zu setzen, und ist daher für Literaturwissenschaftler, die sich mit Rezeptionsprozessen beschäftigen, sehr empfehlenswert. Aufgrund seines klaren Aufbaus und der verständlichen Erklärung selbst komplexer Theorien ist das Handbuch gerade auch als Einführung in das weite Feld der Rezeptionstheorien gut geeignet.



Maria Leopold, M.A.
Bergische Universität Wuppertal
Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaften
Anglistik/Amerikanistik
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail: leopold@uni-wuppertal.de

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1Relevanz ist laut Sperber und Wilson das Verhältnis der kognitiven Effekte zum Prozessaufwand; damit eine Aussage einen ausreichenden Grad an Relevanz für den Rezipienten hat, muss entweder der Prozessaufwand gering sein, oder ein hoher kognitiver Effekt erzielt werden.