Carmen Lăcan

Alte und neue Problemaspekte der Figur

Zu einem medienübergreifenden Versuch einer Begriffsbestimmung der Figur

Jens Eder / Fotis Jannidis / Ralf Schneider (Hg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media. Berlin: Walter de Gruyter 2010 (= Revisionen Bd. 3). 596 S. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-023241-7

Obwohl die Figur ein viel diskutiertes Element der Literaturtheorie ist, haben sich die unterschiedlichen Aspekte dieses Begriffs als nur schwer einheitlich zu erfassen erwiesen, so dass viele bereits diskutierte Probleme der Figurenkonstitution doch immer wieder in narratologischen Untersuchungen vorkommen und die literaturwissenschaftliche Debatte neu erregen. Was ist der ontologische Status der Figur? Welches Verhältnis besteht zwischen Figuren und Personen? Oder zwischen Figur und Handlung? Wie trägt die Figurenkonstellation zur Gestaltung der Figur bei? Wie beeinflußt die Figur den Rezipienten? Auch dieser Tagungsband nimmt erneut solche Fragen sowohl in den einzelnen Beiträgen als auch in der ausführlichen Einleitung der Herausgeber auf.

Unterschiedliche Aspekte des Figurenbegriffs werden fünf Themenbereichen zugeordnet. Der erste Abschnitt widmet sich allgemeinen theoretischen Fragestellungen. Im zweiten Teil werden die Figur und die Figurencharakterisierung in verschiedenen Medien untersucht; der dritte Teil behandelt das Verhältnis zwischen Figuren und Publikum. Im vierten Teil konzentrieren sich die Untersuchungen auf den Zusammenhang von Figuren, Kultur und Identität und im letzten Teil stehen transtextuelle und transmediale Figuren im Fokus.

1. Die Einleitung

Die Einleitung der Herausgeber bietet einen diachronen Überblick über vier literaturwissenschaftliche Paradigmen (nämlich Hermeneutik, Psychoanalyse, Strukturalismus bzw. Semiotik und kognitive Theorien), von denen jedes eine eigene Konzeption der Figur entwickelt hat. Ausgehend von diesen unterschiedlichen Ansätzen und trotz der sich daraus ergebenden Fragmentierung der Figurentheorie, setzt sich dieser Band zum Ziel, durch eine interdisziplinäre Perspektive eine kohärente Begriffsbestimmung zu erarbeiten (S. 5).

Versuche man den ontologischen Status von Figuren zu bestimmen, so ergäben sich aus den unterschiedlichen Theorien ebenso unterschiedliche Auffassungen. So sei die Figur aus semiotischer Sicht als Zeichen, in kognitiven Theorien als mentale Repräsentation, aus philosophischer Sicht als abstraktes oder sogar inexistentes Objekt zu begreifen. Trotz der sich daraus ergebenden vielfältigen möglichen Betrachtungsweisen entscheiden sich die Herausgeber nicht für eine Variante, meines Erachtens, weil ihre Einstellungen nicht übereinstimmen (S. 8-9). Denn jeder der drei Herausgeber bleibt seiner jeweils in eigenen Arbeiten entwickelten Theorie1 treu: „Ralf Schneider conceives of characters as mental constructs [...], whereas Fotis Jannidis and Jens Eder stand for different versions [...] maintaining that characters are abstract objects“ (S. 8-9). Wichtiger erscheint den Herausgebern die Frage nach der Unterscheidbarkeit der Figuren von anderen textuellen Elementen. Die grundlegenden Kriterien der Figurengestaltung bestehen ihnen zufolge in Eigenschaften wie Belebtsein, Intentionalität, Handlungsfähigheit, Menschenähnlichkeit und Personenstatus (S. 10).

Das Problem des ontologischen Status lasse sich weitergehend durch die genauere Betrachtung des Verhältnisses von Figuren und realen Personen erläutern. Dabei betonen die Herausgeber die Bedeutung der im Unterschied zu realen Personen stets gegebenen ontologischen Unvollständigkeit der Figur (S. 11).

Zudem sei die Figurengestaltung auch durch transmediale und medienspezifische Aspekte geprägt. So erweise sich zum Beispiel die Interaktion des Publikums als ausschlaggebend für die Figurenkonstitution in Computerspielen.

Das Verhältnis zwischen Figur und Handlung betreffend, betonen sie die Interdependenz der beiden textuellen Elemente. Sie wenden sich sowohl gegen die Auffassung, beide Momente könnten voneinander getrennt werden, als auch gegen die Annahme, die Handlung besitze einen Vorrang vor der Figur, wie Teile der literaturwissenschaftlichen Tradition annahmen (so etwa Aristoteles, Propp, Greimas).

Das Verdienst dieser ausführlichen Einleitung besteht darin, dass sie viele grundlegende Aspekte der Figurenkonstitution problematisiert und sie einen systematischen Überblick über verschiedene Ansätze innerhalb der Figurentheorien bietet.

2. Was sich klar und deutlich abzeichnet, ist nicht immer auch leicht aufzufassen

Henriette Heidebrinks Aufsatz „Fictional Characters in Literary and Media Studies. A Survey of the Research“ stellt einen historischen Forschungsüberblick zu Figurentheorien dar. Im Einzelnen bespricht sie vor diesem Hintergrund „Current Problems, Aims & Concerns“, wie der ontologische Status, die Menschenähnlichkeit der Figur, die Rezeption der Figur, medienspezifische Aspekte der Figur u.a. (S. 98).

Maria Reicher beschäftigt sich in ihrem Beitrag „The Ontology of Fictional Characters“ mit dem ontologischen Status der Figur. Aus der Sicht der philosophischen Semantik werde die Figur als „contingently (but actually) existing incompletely determined abstract [object]“ (S. 119) aufgefasst, welche sowohl aus internen als auch aus externen Eigenschaften bestehe. Nach Reicher sind die internen Eigenschaften diejenigen, die aus dem Text abgeleitet werden können. Im Unterschied dazu beziehen sich die externen Eigenschaften auf „representational and historical“ (S. 132), also auf extratextuelle Informationen. Im Rahmen der Frage, wie eine Figur mit demselben Namen in mehreren Kunstwerke vorkommen könne, geht Reicher zugleich auf die Frage nach der Identität der Figur ein. Eine Antwort auf diese Frage fächere das Problem in drei unterschiedliche Situationen auf. Es gäbe nämlich eine sich innerhalb eines Kunstwerks, in mehreren Kunstwerken oder in unterschiedlichen Episoden konstituierende Figurenidentität. Um solche Probleme zu lösen, sollten die internen Eigenschaften der Figur als Beurteilungskriterien fungieren. Da die repräsentationalen Eigenschaften medienabhängig seien und demzufolge diese nur die Darstellungweise beeinflußten, spielten die externen Eigenschaften keine wichtige Rolle bei der Identifizierung der Figuren. Aber auch die internen Eigenschaften lassen sich nach Reicher in wesentliche und unwesentliche einteilen. Aber die Antwort auf die Frage, welche Eigenschaften man aufgrund welcher Kriterien als wesentlich und welche als unwesentlich bezeichnen kann, bleibt Reicher schuldig (S. 127).

Der Beitrag von Simone Winko widmet sich der Analyse von Figuren in der Lyrik. Nach einer detaillierten Untersuchung aller Konstituenten der Figurengestaltung in der Lyrik hebt Winko hervor, dass sowohl die textuellen Techniken der Figurenkonstruktion wie auch der mentale Prozess der Figurenrezeption in der Lyrik die gleichen wie in Prosatexten seien. Die Unterschiede bestünden eher in quantitativen Besonderheiten. Spezifische Charakteristika der Lyrik wie die Metrik oder die Dichte der Informationen beeinflussten auf eigene Weise die Figurenkonstitution. Weil in der Lyrik der Figur nur wenige Eigenschaften explizit zugeschrieben würden, erwiesen sich Schemata und Konventionen einerseits der Figurenkonstitution und andererseits des Verstehens als besonders relevant für die Figurengestaltung bzw. für die Figurenrezeption.

Vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Philosophie versucht Uri Margolin das „readerly engagement with literary character“ (S. 400) neu zu fassen. Die Figur lasse sich de sensu als semantische Einheit auffassen, de dicto als Gedankenobjekt, de re als in bestimmten (fiktionalen) Welten existierende Person. Innerhalb des letzten Modus des de se spricht Margolin die Reaktion des Lesers auf die Figur an. Die Wirkung auf das Publikum umfasse eine breite Skala, die aus zwei entgegensetzten Pole bestehe, nämlich einerseits aus der „immersion“ (S. 410), ein Begriff, der die intensive emotionale Beteiligung und die Identifizierung mit einer Figur bezeichnet, und andererseits aus der nüchternen Kontemplation.

Brian Richardsons Untersuchung zu transtextuellen Figuren will die wesentlichen Kriterien für die Etablierung der Identität einer in mehreren Texten vorkommenden Figur bestimmen. Ob die Figur in einem später erschienenen Text dieselbe ist wie die Figur aus einem Prototext, oder anders gesagt, ob die Figur aus einem nachfolgenden Text eine Variante der Figur aus einem vorhergehenden Text ist bzw. ob die Figuren aus verschiedenen Texten mit demselben Namen doch eher völlig unterschiedliche Identitäten haben, das lasse sich anhand eines Ähnlichkeitsprinzips bestimmen. Eine genaue Abgrenzung der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit wird aber meines Erachtens nicht präzise genug vorgenommen, wodurch sich die Reichweite und Anwendbarkeit dieses Prinzips als fragwürdig erweist.

3. Fazit

Zwei relevante Leistungen dieses Sammelbands lassen sich hervorheben, nämlich die pluralistische Sicht auf die Figurentheorien und die transmediale Herangehensweise der Beiträge. Als schwer erreichbar erweist sich dagegen eine Einheit in dieser Vielfalt.

Erfreulich ist an diesem Band außerdem die Berücksichtigung unterschiedlicher sekundärer und kontroverser Aspekte der Figurengestaltung, die für gewöhnlich eher am Rande der literaturtheoretischen Diskussion bleiben oder wenig Beachtung finden, wie zum Beispiel die von Ruth Florack untersuchte ethnische Komponente, die von David Giles analysierten parasozialen Beziehungen, die im Zentrum des Aufsatzes von Henriette C. van Vugt, Johan F. Hoorn und Elly A. Konijn stehende Interaktion des Publikums mit der Figur im virtuellen Raum oder die von Simone Winko dargestellte Figurenkonstitution in der Lyrik.

Literaturverzeichnis

Eder, Jens (2008): Die Figur im Film. Marburg.

Jannidis, Fotis (2004): Figur und Person. Berlin.

Schneider, Ralf (2000): Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen.



Carmen Lăcan, M.A.
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1Vgl. dazu Schneider 2000, Jannidis 2004 und Eder 2008.